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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Ein indifferentes Bild hinterlassen Thomas Quasthoffs Gesangskünste beim Anhören dieses Rezitals aus Oratorienarien von Bach, Händel, Haydn und Mendelssohn: Das offenbar nicht mehr ohne Weiteres zu kontrollierende Wackeln seiner Stimme lässt viele Phrasen unrund und unorganisch geraten; über die Maßen mit tremolierender Betonung traktierte Nebensilben rufen Erinnerungen wach an jene längst vergangenen Tage des romantisch-pathosgeladenen Betroffenheits-Barocks vor der Wiederentdeckung der musikalischen Rhetorik. Irritierend daran ist, dass es durchaus Momente gibt, in denen die prinzipiell hervorragende Ausnahmequalität dieser Bassbaritonstimme hervorscheint - man gewinnt daher den Eindruck, Quasthoff vernachlässige sowohl die Stimmhygiene als auch das Studium der Stilistik besonders der barocken Musik, die Erforschung der musikalisch-rhetorischen Figuren sowie der Art und Weise, wie hier Sprache in Musik gesetzt ist. Von ähnlicher Nachlässigkeit ist selbst der Bonustrack, das Spiritual "Swing low, sweet chariot" (was immer das auch auf dieser CD zu suchen hat) beeinträchtigt: Einerseits rollt Quasthoff viele der R-Konsonanten wie ein Oxford-Professor, andererseits versucht er sich auf durchaus unidiomatische Weise an Amerikanismen ("Coming for de carry me home" etc.); über den im Ergebnis absolut biederen Versuch, sich insgesamt dem feeling farbiger Sänger anzunähern, kann man nur den Kopf schütteln. Ob Bach oder Spiritual: Das ganze Projekt leidet darunter, dass es nicht in erster Linie von den Werken, sondern vielmehr vom Interpreten aus gedacht ist: Nicht über die Musik von Bach und Händel etc. erfahren wir hier etwas, sondern darüber, wie Thomas Quasthoff sie sieht. Dies entspricht exakt auch der Vermarktungsstrategie des gesamten Produkts mit inliegender Werbung für Michael Quasthoffs neues Buch über seinen Bruder.
In diesem Zusammenhang seien noch ein paar Worte verloren über die spirituelle Botschaft, die Quasthoff via Beihefttext mitliefert: "Musik ist meine Religion", lässt er sich hier zitieren - was soll das heißen? Betet er zu Johann Sebastian Bach statt zum lieben Gott? Bach selbst hätte sich vor Grauen geschüttelt angesichts des Ansinnens, Musik solchermaßen zum Fetisch zu machen. Der Geist, aus dem heraus Bach, ein gläubiger Lutheraner, seine Musik komponierte, interessiert Quasthoff aber nicht näher: "Um zu fühlen, was diese geistlichen Arien ausdrücken, brauche ich das Glaubenssystem des Komponisten nicht zu übernehmen." Nun, es sei jedem gewährt, sich seine private Kunstreligion zu zimmern, statt sich mit dem Christentum, diesem abseitigen "Glaubenssystem", zu identifizieren. Quasthoff verweigert ganz offensichtlich aber auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Inhalten des von ihm zelebrierten Repertoires: "Elemente der Unsicherheit und sogar Furcht" statt religiöser Gewissheit macht er nämlich in der barocken geistlichen Musik aus und liefert, bezogen auf das Arioso "Betrachte, meine Seel" aus der Johannespassion, auch gleich den Grund dafür mit: "Der Text berührt den Kern des christlichen Glaubens, d. h. Christi Tod und die Schuld, in die er die Gläubigen setzt." Oha, Herr Quasthoff - war das nicht genau umgekehrt? Da haben wir wohl im Religionsunterricht nicht aufgepasst. Wer solchen Unsinn verbrät, zieht auch die Gültigkeit seiner Interpretation dieser Musik in Zweifel. Von einem so prominenten Künstler dürfte man eigentlich erwarten, dass er sich ernsthaft mit den Aussagen der von ihm vorgetragenen Stücke beschäftigt (schließlich konstatiert er auch: "Das Wichtigste ist für mich die Symbiose von Text und Musik") oder aber seine unausgegorenen bzw. sachlich falschen Thesen für sich behält - und es damit dem Hörer überlässt, zu entscheiden, ob seine Interpretation dem Gegenstand angemessen ist oder nicht.

Michael Wersin, 01.09.2007


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