home

N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Responsive image mb-5
John Tuder

Lamentationes Jeremiae

Diphona

Marc Aurel Edition MA 20001
(48 Min., 2/2000) 1 CD

Mit Wiedergeburten ist das bekanntlich so eine Sache: Wieviel vom Ich, fragt man sich, bleibt bei so einer Aktion eigentlich übrig? Wenn wir in dieser Aufnahme die Bekanntschaft mit John Tuder machen, dann ist es jedenfalls eine sehr vermittelte. Von Tuder weiß man nicht viel mehr, als dass er in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Sänger in der Hauskapelle eines englischen Edelmanns angestellt war; seine Kompositionen sind nur in zwei Handschriften überliefert. Eine davon, das "Pepys-Manuskript" genießt unter britischen Wissenschaftlern dabei eine fast kultische Verehrung: Es ist eine von nur ganzen zwei vollständigen Quellen im Land, betonen sie, die das englische Repertoire aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert. Doch selbst in dieses magere Süppchen lässt sich noch spucken: Manche Kollegen behaupten nämlich, dass es sich bei Tuders einstimmigen Melodien in Wahrheit nur um die Oberstimmen einer mehrstimmigen Kompostion handele.
Die beiden Musiker von Diphona haben sich davon nicht abschrecken lassen und Tuders Noten (oder was von ihnen übrig ist) mit dieser Ersteinspielung zu einer klingenden Wiedergeburt verholfen. Maria Jonas Stimme ist glasfein aber gehärtet: Sie kontrastiert vorteilhaft zu den weichen aber nie konturlosen Traversflötenklängen ihres Partners Norbert Rodenkirchen, die sich dann doch immer wieder wie eine zweite Menschenstimme an sie schmiegen. Glücklich halten sie die Balance zwischen Notentreue und ergänzender Improvisation: Während Maria Jonas die durchaus ausgezierten modalen Gesänge Tuders offenbar kaum verändert, umspielt der Flötist ihre Kadenzen mit großer Ökonomie der Mittel und Respekt für die choralartige Substanz der Melodik, um die Musik dann in den untextierten Interludien bedächtig fortzuspinnen.
Unterlegt ist das Wechselspiel durch den leisen Klang einer Sinfonie, einem Drehorgelinstrument, das trotz feiner klanglicher Bitterstoffe keineswegs penetrant wirkt, sondern wie die Linie eines Horizonts mit selbstverständlicher Unbewegtheit für Orientierung sorgt: So kommt auch manche melodische Schlussformel der Gesangsstimme zur Geltung, die vielleicht doch ursprünglich auf mehrstimmige Unterfütterung berechnet war. Eine Wiedergeburt Tuders, die als unkitschige Mittelaltermeditation taugt, mehr noch aber als Essay über die karge Schönheit einer intelligent erfundenen alten Klanglinie.

Carsten Niemann, 01.09.2007


Diese CD können Sie kaufen bei:

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen



Kommentare

Kommentar posten

Für diese Rezension gibt es noch keine Kommentare.


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Der Komponist Giacomo Orefice (1865–1922) wuchs in einer jüdischen Familie im norditalienischen Vicenza auf und ist vor allem für sein Opernschaffen bekannt. Auch als Pädagoge macht er sich einen Namen, sein berühmtester Schüler war der Filmkomponist Nino Rota. Orefices bekanntestes Musiktheaterwerk ist „Chopin“, für das er die Klavierwerke des polnischen Komponisten orchestrierte. Seine eigene Klaviermusik umfasst überwiegend romantische Charakterstücke, die von Gedichten, […] mehr


Abo

Top