Brad Mehldau, der sich im Beiheft seiner neuen CD als hochintellektueller Grübler zeigt, ist stolz auf seine deutschstämmigen Vorfahren - hätte er sonst den letzten Winter hier verbracht, um unsere Sprache zu erlernen? Dabei entstanden auch die Kompositionen und das Konzept seines „elegischen Zyklus“ aus neun Klavierstücken, von denen eines denn auch den deutschen Titel „Rückblick“ trägt. Diesen Urlaub von der „Kunst des Trios“, der er bisher drei CDs widmete, hat Mehldau für die noch anspruchsvollere Kunst des Solos zu nutzen gewusst.
Obgleich Phrasierung und improvisierte Anteile seiner Musik ihn eindeutig als Jazzmusiker ausweisen, hat Mehldau den Mut besessen, diesmal keine Jazzplatte zu machen. Das Erstaunliche dabei: Er badet nicht in Kitsch oder nachromantischem Bombast, in den Jazzer gerne verfallen, wenn sie klassische Einflüsse aufnehmen, sondern schwingt sich in seinen konzis durchgeformten, männlich-beherrschten Trauermusiken zu beethovenscher Wucht auf. Dann wieder orientiert er sich an den herbstlichen Stimmungen des späten Brahms - und der Tatsache, dass die großen europäischen Komponisten auch große Meister im Fantasieren waren (erhalten sind uns indes nur ihre schriftlich fixierten Werke). "Vita brevis ars longa“ hat Mehldau sein Werk untertitelt. Und da seit der Erfindung der Schallplatte auch spontane Eingebungen nicht länger der Furie des Verschwindens unterliegen, ist Mehldaus Kunst auch in diesem Sinne ein langes Leben zu wünschen.
Mátyás Kiss, 31.03.1999
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