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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Self Portrait

Artie Shaw

Bluebird/Sony BMG 09026 63808 2
(7/1930 - 8/1956) 4 CDs

Mit Artie Shaw und Benny Goodman verhält es sich wie mit Schiller und Goethe. Im Zweifelsfall sind immer Goethe und Goodman die Bekannteren, Populäreren, Zitierten, nicht Shaw und Schiller. Doch Artie Shaw hat gegenüber seinem Erzrivalen Goodman einen Vorteil: Er lebt noch und kann Einfluss darauf nehmen, wie sein Lebenswerk rezipiert wird.
Dieser Umstand führte dieses Jahr zu einer sehr ungewöhnlichen Werkausgabe. In einer Zeit des Vollständigkeitswahns (dem ich auch immer wieder anheim falle) wurde eine auf fünf CDs beschränkte Retrospektive herausgebracht, bei welcher Shaw selbst eine Auswahl traf, die gleichwohl ein vollständiges Bild ergibt. Dabei konnte er neben Studio-Aufnahmen für RCA, die Einspielungen für andere Konkurrenzlabels sowie Live- und Rundfunkeinspielungen berücksichtigen. Man wundert sich, warum so etwas nicht alle Tage vorkommt.
Der Urheber selbst, man stelle sich das einmal vor, zieht die Summe seines Lebens, trennt die Spreu vom Weizen und greift, neben anderen Kennern zur Feder, und dies in Zeiten, in denen so mancher Musiker seine eigene Platte nicht wiedererkennt, weil so viele zwischen ihn und sein Produkt geschaltet sind, deren Treiben er machtlos zuschauen muss. Doch das ist ein anderes Kapitel.
Das hier erzählte Kapitel gehört mit zum Spannendsten der Jazzgeschichte. Shaw (heute einundneunzig) war als Leader und Klarinettenvirtuose einer der erfolgreichsten Repräsentanten der Swing-Ära. Als ewiger Konkurrent Goodmans mit zahlreichen Hits und als attraktiver Ehemann berühmter Filmschönheiten wie Lana Turner oder Ava Gardner war Shaw eine zentrale Persönlichkeit des Showbusiness. Umso mehr wiegt seine, von künstlerischer Integrität getragene Verweigerung gegenüber dem "Business", die 1955 zum endgültigen Rückzug aus der Musik führte. Schon früher hatte sie ihn dazu bewogen, seine Big Bands auf der Höhe ihrer Erfolge aufzulösen.
Die Auswahl - sie verzichtete auf Tagesschlager, legt bei den Vokalaufnahmen strenge Kriterien an - bestätigt wieder diese Haltung. Es ging Shaw um die seiner Meinung nach besten Aufnahmen, nicht um jene Stücke, die damals zufällig Hits wurden ("Begin The Beguine", das er nicht mehr hören kann, fehlt trotzdem nicht). Nicht selten gab Shaw einer ausgefallenen Live-Aufnahme den Vorzug gegenüber bekannteren Versionen.
Wie wir nachhören können, beschäftigte Shaw als praktizierender Antirassist schwarze Größen wie Billie Holiday und Roy Eldridge sowie, als fortschrittlicher Kopf unter den Etablierten, Neutöner wie Dodo Marmarosa und George Russell. Shaw schuf im Laufe seiner Karriere immer wieder neue Sounds, die auch von seiner Liebe für klassische Musik künden: schon bei seinen ersten Aufnahmen fiel er damit auf, dass er ein Streichquartett in die Jazzband integrierte. In der aus Orchestermitgliedern zusammengesetzten "Gramercy Five" wurde ein Cembalo an Stelle eines Klaviers verwendet.
Wer mit den fünf CDs an einem Nachmittag eine ganze Ära amüsiert, erquickt, erhoben und in jedem Fall gut unterhalten an sich vorbeiziehen lässt, stellt sich dann doch die Frage, warum er im Zweifelsfall immer zu Goethe und Goodman gegriffen hat. Eine Weihnachtsgabe erster Wahl für Swing-Freunde.

Marcus A. Woelfle, 01.09.2007


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