home

N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Responsive image mb-5

The Complete Lester Young Studio Sessions On Verve

Lester Young

Verve/Universal Jazz 547 087-2
(1946-1959) 8 CDs

Wo immer vom späten Lester Young die Rede ist, werden beharrlich zwei Thesen ins Feld geführt. Zum einen: Der Ärmste war nach der Zeit bei der Armee ein Schatten seiner selbst und spielte zunehmend schlechter. Zum anderen: Er klang besser als jemals zuvor in seinem Leben. Vertreter der ersten These vermissen im Spätwerk die unbeschwerte Freude und die lineare Solo-Architektonik seiner Aufnahmen der Basie-Zeit, um in der trüben Melancholie nur das Stammeln eines Musikanten zu vernehmen, dem physisch und psychisch die Luft ausgeht. Als gebe es nicht auch hier beglückendes Swingen und beseelte Balladenwärme. Die anderen sind tief ergriffen und huldigen selbst den allerletzten Verve-Aufnahmen, bei denen selbst der Kommentator dieser Edition der Frage nachgeht, warum gerade diese Pariser Session stattfinden musste.
Den späten Young zu hören, kann, wenn man mit seinem Werk vertraut ist und zwischen den Tönen zu hören versteht, eine schmerzliche Erfahrung sein. "Pres", der Präsident des Saxofons, macht uns nie etwas vor: Versteckte er sich als schüchterner Mitmensch hinter einem nur Wenigen verständlichen Kauderwelsch, so legte er als Musiker mit einer selten anzutreffenden Ehrlichkeit sein Herz so bloß, dass seine Befindlichkeit jedermann offenbar war.
In lichten Augenblicken zeugte sein vergeistigtes Spiel von einer Jenseitigkeit, die beim Hörer die Sehnsucht weckt, sich im Klang aufzulösen. Doch selbst beim Absturz, wo die technische und gestalterische Souveränität vollkommen abhanden zu kommen drohen, scheint die Musik von einem zu kommen, der das Reich der unendlichen Harmonie bereist hat, um auf Erden eine unsanfte Bruchlandung zu machen. Andere klingen "kaputt", ohne je dort gewesen zu sein.
Wenn der späte Young scheiterte, dann auf dem denkbar höchsten Niveau - und das ist viel interessanter und bewegender als das glatte, makellose Spiel all jener virtuosen College-Studenten, die viel geübt haben, aber keine Geschichte erzählen können. Young erzählte immer eine Geschichte, und dies nicht nur, weil er als Instrumentalist die Texte mitinterpretierte.
Hier können wir es nachprüfen: Bis auf die Live-Aufnahmen und die Einspielungen für Aladdin (seine wohl besten Aufnahmen der späten vierziger Jahre) können wir Youngs Entwicklung von 1946 bis kurz vor seinem Tod 1959 chronologisch verfolgen. Als Young 1944 den Militärdienst antrat, hatte sein Spiel trotz der Verhaltenheit seines Sounds etwas Jubilierendes. Als er schwer traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrte, war er ein gebrochener Mann, doch seine Schaffenskraft war keineswegs sofort erloschen. Die späten vierziger Jahre, dies bezeugen hier die Aufnahmen mit Nat "King" Cole und Buddy Rich, sind durchaus ein Höhepunkt seiner Karriere. Noch jahrelang konnte er sich mit seiner Musik weit über die Depression hinausschwingen. Bis Mitte der fünfziger Jahre entstanden noch unerreichbare Juwelen.
Gesundheitliche und psychische Probleme verbunden mit einem enormen Alkohohlkonsum und der Gewohnheit, fast nichts zu essen, schlugen sich erst im Laufe der Jahre fatal auf seine Spielweise nieder. Am deutlichsten wird der Wandel am Sound: In einem Auf und Ab wird der einst schwerelose Sound trüber; vorübergehend wird er sogar für Youngs Verhältnisse recht kräftig, so als bäumte er sich etwas auf. Der Klang bewahrt zunächst einen milden Glanz und wird zunehmend stumpfer. Der in den frühen fünfziger Jahren noch flexible Sound verliert zunehmend seinen Nuancenreichtum und wird brüchig. Die Aufnahmetechnik machte in diesen Jahren große Fortschritte, sodass gerade sein schwächster Sound am besten aufgenommen wurde.
Auch in der Linienführung machen sich Atem-Probleme bemerkbar. Young kann bei schnellen Tempi oft nicht mithalten. Da er bereits früher hinter dem Beat spielte, kann das zunehmende Wegdriften von der Rhythmusgruppe noch als manieristische Weiterentwicklung des eigenen Stils durchgehen. Als er die luziden, langen, fließenden Phrasen der Anfangsjahre gar nicht mehr souverän beherrscht, entwickelt er einen Stil mit kürzeren, trompetenartigen Phrasen, womit er wieder mehr an swing gewinnt.
All diese Veränderungen vollziehen sich gerade in jener Zeit, als Lester Young Vorbild für die ganze Cool-Jazz-Generation von Getz & Co wurde, als seine weißen Schüler besser bezahlt wurden als er, als sein Gegenspieler und Freund Coleman Hawkins mit seinem voluminösen Sound und zupackenden Spiel weniger populär war als er. Das Langspiel-Format bei Verve gab Young erstmals die Möglichkeit, längere Improvisationen einzuspielen, meist mit den großen Pianisten der Zeit: Hank Jones, John Lewis, Oscar Peterson. Unter den Bläsern finden sich Gefährten aus alten Basie-Tagen wie Harry "Sweets" Edison, der noch kurz vor seinem Tod ein Vorwort zu dieser Edition verfasste.
Die Acht-CD-Box enthält zweiundsechzig Aufnahmen, die erstmals auf CD erscheinen, darunter dreizehn noch nie veröffentlichte. Zu den Kuriositäten gehört "It Takes Two To Tango", die einzige Vokalaufnahme Youngs. Meist wurde er für Verve mit Starkollegen aus Swing und Mainstream aufgenommen, selten hören wir Mitglieder seiner boppigeren Working Bands, etwa den Trompeter Jesse Drakes, doch sind diese Formationen aus Live-Mitschnitten bestens bekannt.
Das Gesamtbild spiegelt also nicht unbedingt Youngs musikalischen Alltag. Viele Aufnahmen gehören zu den besten und tiefsten Zeugnissen seiner lyrischen Kunst, nicht nur ältere wie der "Undercover Girl Blues" (1951), sondern auch einige aus der "Verfallszeit" wie "They Can’t Take That Away From Me" (1958). Sehr bewegend sind auch die seltenen Beispiel von Youngs Klarinettenkunst, obwohl ihnen anzuhören ist, dass er das Instrument so gut wie nie spielte. Interview-Aufnahmen mit "Pres" ergänzen diese Edition, die ein editorischer Meilenstein ist.

Marcus A. Woelfle, 01.09.2007


Diese CD können Sie kaufen bei:

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen



Kommentare

Kommentar posten

Für diese Rezension gibt es noch keine Kommentare.


Abo

Top