home

N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Testgelände

Giacomo Puccini zum 150. Geburtstag

Fürs Theater. Nur fürs Theater!

Für ihre Aufführungen legte die Pariser Oper schon früh ausführliche Regiebücher an. Die Notizen zu den Erstaufführungen von »Tosca« und »Butterfly«, an denen Puccini selbst mitgewirkt hat, existieren noch. Und sie zeigen: Vieles wünschte sich der italienische Maestro anders, als es im Reclamheftchen steht. Klaus Mertens, namhafter Germanist, Musikexperte und Autor eines soeben erschienenen Puccinibuchs, hat diese unschätzbaren Dokumente erforscht und rückt manch lieb gewordene Aufführungstradition und -konvention zurecht.

Paris Ende September 1903: Die französische Erstaufführung von »Tosca« (13. Oktober) wird vorbereitet. Der bedeutendste französische Dirigent, André Messager, betreut das Orchester, um die Szene kümmert sich Albert Carré, beraten von Victorien Sardou, dem Autor des Theaterstücks, das als Vorlage gedient hat. Puccini ist, wie immer bei wichtigen Premieren, selbst dabei, überwacht die musikalische Interpretation und redet auch auf der Bühne mit. Die Pariser Oper ist schon lange führend bei der Organisation ihrer Produktionen: Vorab wird ein ausführliches Regiebuch erstellt, in dem Bühnenbild und Dekoration, Beleuchtung, Gänge der Akteure und Ausdrucksmomente skizziert und beschrieben sind. Im Verlauf der Proben werden Ergänzungen und Änderungen aufgenommen.
Die Regiebücher zur Pariser »Tosca« und »Butterfly« von 1906 existieren noch, sie liegen in der Bibliothèque de la Ville und halten fest, was sich von der flüchtigen Kunst des Theaters schriftlich fixieren ließ, sie repräsentieren Aufführungen, an deren Gestalt Puccini mitgewirkt hat. Es handelt sich um Klavierauszüge mit eingeklebten Seiten oder um dickere Hefte. Schlagen wir das zu »Tosca« auf, so erfahren wir über den Mittelakt, wie die beiden Kerzenleuchter platziert sind, dass Scarpia zwei Gläser Bordeaux, Obst und Kekse und ein Wasserglas hat bereitstellen lassen. Während Tosca auf das Sofa gesunken ist, nimmt Scarpia eine Tasse, tut Zucker hinein und gießt Kaffee darauf – anders als im Textbuch beschrieben, beobachtet er Tosca dabei nicht, sondern zeigt sich völlig ungerührt. Diese lässt den Kopf in ihre Hände fallen, singt also, anders als heute üblich, nicht im Liegen, wie es Milka Ternina eingeführt haben soll. Als Tosca Scarpia dann erdolcht hat, versucht er, sie zu ergreifen, sie aber erhebt das Messer und zeigt es ihm drohend. Als sie ihn aufgebahrt hat, fällt ein Mondstrahl durch das Fenster. Bühnengesten intensivieren das Geschehen, Stimmungen werden kontrastiert.
Im Regiebuch der »Butterfly« wird das Liebesduett am Schluss des ersten Aktes sorgfältig durch Gesten und Bewegungen gesteigert. Pinkerton sitzt auf einer Bank (Zeichnung), »Butterfly kniet sich langsam zu den Füßen Pinkertons nieder. Sie lässt ihren Kopf auf der Schulter Pinkertons ruhen, der sich zu Butterfly hinabgebeugt hat ... Er ergreift sie an den Händen und zieht sie zu sich heran. Sie befindet sich mit dem Rücken an die Brust Pinkertons gelehnt, den Kopf auf seiner Schulter.« Der amerikanische Konsul Sharpless ist weniger gehemmt als üblich, sondern sehr mitfühlend gezeichnet, denn als Butterfly im Schlussakt versteht, dass sie ihren Sohn hergeben soll, sagt er nicht einfach: »Corragio!« (»Nur Mut!«), sondern »als er sieht, wie bewegt Butterfly ist, geht er zu ihr, nimmt sie in seine Arme und hält sie fest. Butterfly bricht zusammen, ihre Arme in denen von Sharpless, der sie fasst und väterlich stützt ... Butterfly weint in den Armen von Sharpless ... unterstützt von Sharpless blickt sie unbeweglich zum Publikum, ohne Kate anzuschauen ... Sharpless gibt Kate ein Zeichen, sich zurückzuziehen.« Die Regie zeigt eine verletzliche Cio-Cio-San und einen besonders oberflächlichen Pinkerton. So wird ihm auch das letzte Zeugnis der Reue verweigert: Im Libretto wird die Tür zu Butterflys Todeszimmer gewaltsam geöffnet, Pinkerton und Sharpless kommen herein, der Leutnant kniet nieder, der Konsul umarmt schluchzend das Kind. In Carrés Inszenierung sieht das anders aus: »Nachdem dritten »Butterfly« [Pinkertons] kriecht sie, sich über den Boden schleppend, zur Türe rechts, um sie zu öffnen ... Pinkerton klopft an die Tür, Butterfly schleppt sich immer weiter, versucht, an der rechten Türe anzukommen. Mit einer letzten Anstrengung erhebt sie sich, fällt aber tot zu Boden im vorletzten Takt.« Sie stirbt allein, Pinkerton bleibt vor der Tür. Puccini, der viel Zeit darauf verwendete, die Aufführungen seiner Werke zu betreuen, wollte menschliche Wahrheit und er hat Position bezogen: für Butterfly, für den bis in den Tod wahrhaftigen Menschen, dessen Naivität Rührung und dessen Scheitern Mitleid hervorruft. Seine Mitwirkung an der endgültigen Werkgestalt lässt sein Ziel klar hervortreten, er ist auf der Seite des zerbrechlichen Menschen.
»Gott berührte mich mit seinem Finger und sagte: ›Schreibe fürs Theater. Nur fürs Theater. Fürs Theater‹« – Puccini wollte ein Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners. Deshalb war er beständig auf der Suche nach theatertauglichen Stoffen, deshalb »quälte« er seine Librettisten, bis sie die schlagkräftige Dramaturgie und die richtigen Worte gefunden hatten. Deshalb reiste er den Premieren seiner Opern voraus, nicht hinterher. Er versuchte, seinen Sängern nicht nur Intensität, sondern Differenziertheit der Darstellung zu vermitteln. Er war bereit, ihre Individualität zu respektieren, es gab für ihn nicht die »Tosca« oder die »Butterfly«, sondern verschiedene Verkörperungen einer Rollenvorgabe. Doch jede von diesen musste in sich wahr sein. Das erkannte der Rezensent der Pariser »Butterfly«, als er in »La Liberté« schrieb: »Madame Butterfly ist sehr gut gesungen, sehr gut gespielt, sehr gut auf die Bühne der Opéra comique gebracht. Ich wage zu sagen: zu gut. Mme. Marguerite Carré hat der kleinen Geisha eine Seele und eine Erscheinung gegeben; durch den seelischen Realismus und ihr ergreifendes Spiel, ihre Grazie, die Intelligenz ihres Singens und ihrer Diktion hat sie einen persönlichen Triumph errungen.« Puccini hatte sein Ziel erreicht.

Neue CD-Erscheinungen (Auswahl):

Puccini – The Complete Operas

RCA

Giacomo Puccini – The Operas

EMI

Maria Callas – The Complete Puccini Studio Recordings

EMI

Puccini - The Definitive Collection

Decca

100 Best Puccini

EMI

Puccini 150 – Musik für die Ewigkeit

Sony Classical

Maria Callas: The Puccini Love Songs

Maria Callas

EMI

Madama Butterfly

Angela Gheorgiu, Jonas Kaufmann, Antonio Pappano

EMI

Neu erschienen:

Volker Mertens: Giacomo Puccini. Wohllaut, Wahrheit, Gefühl

Militzke Verlag

Rondo Redaktion, 19.04.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2008



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Avancierte Aktualität

Seit seiner Premiere im Wendejahr 1990 ist das [Kunstfest Weimar](https://www.kunstfest-weimar.de) […]
zum Artikel

Fanfare

Proben, Pleiten und Premieren: Höhepunkte in Oper und Konzert

Der Letzte wird der Erste sein. An dieses Sprichwort wird Ersan Mondtag vor seiner jüngsten […]
zum Artikel

Fanfare

Darf es sein, dass bei einer Donizetti-Oper Chor und Dirigent den meisten Applaus abräumen? Es […]
zum Artikel


Abo

Top