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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Musik der Welt

Auf der Suche nach Verschmelzung

Eine Grenzlinie zwischen Jazz und Weltmusik zu ziehen, ist nicht immer einfach. Denn seit jeher ist der Jazz eine Musik, die zwischen den Völkern vermittelt und verschiedene Traditionslinien verbindet. Mit dem Album »Kinsmen« ist dem New Yorker Altsaxofonisten Rudresh Mahanthappa ein Meilenstein gelungen. Der Jazzmusiker trifft darauf den indischen »Kaiser des Saxofons« Kadri Gopalnath, der sein Instrument einer ganz urindischen Spielweise angepasst hat. Herausgekommen ist ein indo-amerikanischer Dialog von wirklich atemberaubender Dichte und Stringenz.

Man hat den Begriff »Weltmusik« mit guten und schlechten Argumenten immer wieder zu diskreditieren versucht. Impliziert er eine kolonialistische Sichtweise, weil zum Beispiel die westliche Konzertmusik nicht einbezogen wird? Ist er ein reines Verkaufsetikett? Weltmusik – so könnte man sagen – ist die zwischen den Völkern vermittelnde Musik, die Verbindung verschiedener Traditionsstränge. Sie umfasst alles, was musikalische Sprachen näher rückt und verbindet. Meist landet alles, was nicht eindeutig Pop, Klassik oder Jazz ist, in dieser Schublade, doch de facto gibt es heute kaum mehr eine Musik, die nicht als »world music« bezeichnet wird – gerade auch Klassik und Pop. Goethe hatte in den letzten Jahren seines Lebens den Begriff »Weltliteratur« noch im Sinne des geistigen Austauschs von Literaten unterschiedlicher Nationen verwendet. Erst später wurde daraus ein grenzüberschreitender Kanon der besten Dichtung aus aller Herren Länder. Wenn aber Goethe zur »Weltliteratur« gehört, muss dann nicht auch Bach zur »Weltmusik« zählen? Und hat der Komponist der Englischen Suiten nicht auch französische und italienische Elemente in seine Musik eingeflochten? Ist deutschsprachiger Rap nahöstlichstämmiger Jugendlicher nicht euro-afro-amerikan-asiatische »world music«? Hier kann, wer will, einen Riegel vorschieben. Und beim Jazz? Von seiner ureigensten Natur her ist Jazz offen, auf Begegnung ausgerichtet. Jazz entstand infolge eines langen Akkulturationsprozesses aus der Verbindung vielfältiger afrikanischer und europäischer Elemente – und zwar in Amerika, wo dafür die besten Voraussetzungen gegeben waren. Aus Verschmelzung geboren, sucht er nach Verschmelzung. Die Lust an Veränderung, Ausdehnung und Integration wurde ihm in die Wiege gelegt. Daher gehörten Jazzmusiker zu den ersten, die ihre Musik mit der fremder Kulturen verschmolzen haben und darum geht Jazz überall auf der Welt auch Verbindungen mit einheimischen Musikformen ein. Aus der euro-afro-amerikanischen Sprache wurde eine Sprache des interkulturellen Dialogs, die unzählige Dialekte kennt. Deshalb fällt es heute so schwer zu bestimmen, was Jazz überhaupt ist und wo gegebenenfalls die Grenzlinie zur Weltmusik zu ziehen ist.

Ausgelöst werden diese Gedanken von »Kinsmen«, einem Album von Rudresh Mahanthappa featuring Kadri Gopalnath & The Dakshina Ensemble (Pi Recordings/Al!ve 1300028), das man gern als »bestes Weltmusikalbum« des vergangenen Winters bezeichnete, wäre der marktschreierische Stil nicht so verbreitet, dass man sich schämt, ihm in seiner Begeisterung anheimzufallen. Die Juroren des Preises der deutschen Schallplattenkritik haben es aber eben in der Sparte Jazz in die Bestenliste aufgenommen, was nicht die grundsätzliche Frage klärt, was es ist – doch kommt uns Mahanthappa selbst mit dem Begriff »Indo American Jazz« entgegen. Als »Indo Jazz Fusion« hat man schon in den Sechzigerjahren die Musik bezeichnet, die der jamaikanische (!) Altsaxofonist Joe Harriott mit dem indischen Geiger John Mayer machte und aus unerklärlichen Gründen waren es seither immer wieder Altisten wie John Handy oder Charlie Mariano und Geiger wie L. Subramaniam oder L. Shankar, die hierin Gelungenes vollbrachten. »Kinsmen« ähnelt nichts Dagewesenem, obgleich es sich von der Instrumentierung her in dieses Schema zu fügen scheint: Mit Rudresh Mahanthappa und Kadri Gopalnath stehen gleich zwei gänzlich verschiedene Altsaxfonisten Seite an Seite. Aus dem Dakshina Ensemble, einem geradezu idealtypisch gelungenen Ort der Ost-West-Begegnung, ragt der Klang einer Violine heraus: Sie gehört A. Kanyakumari, der mit einem breiten, butterweichen, nasalen, verblüffend vokalen Sound auf seiner Violine »singt« wie kaum einer. Der Gitarrist Rez Abbasi schlägt, unterstützt vom Bassisten Carlo De Rosa, die Brücke zu zeitgenössischen Jazzsounds, während der Mridangam-Spieler Poovalur Sriji und der Drummer Royal Hartigan sich auf halber Strecke zwischen Südindien und Jazzland treffen. Die melodisch-metrischen Fundamente, auf denen sie ihre höchst expressiven Improvisationen errichten, sind zum großen Teil karnatisch, auch wenn die Stücke im Bewusstsein zurückhaltend dosierten, westlich harmonischen Denkens entstanden. Manche von ihnen sind so packend, dass man etwa angehörs von »Snake!« selbst zur hypnotisierten Schlange wird.

Der abenteuerliche indo-amerikanische New Yorker Rudresh Mahanthappa, der es im Vorjahr unter die ersten Zehn der Critics Poll der Zeitschrift »Down Beat« geschafft hat, ist fraglos ein Jazzmann – auch er ein Altsaxofonist, der, das offenbart sich mit jedem Ton, seine amerikanischen Zunftgenossen genau studiert hat, etwa Steve Coleman, Michael Brecker und von den Älteren Ornette Coleman und John Coltrane. Es sei daran erinnert, dass Letztere seit je Inspiratoren der Weltmusik waren, Coltrane, als einer der ersten modal improvisierenden Jazzmusiker, der direkt von indischer Musik beeinflusst worden war und Coleman durch seine Improvisationen mit marokkanischen Musikern. Gegen den Ausdruck »Fusion«, den er wohl mit etwas Oberflächlichem verbindet, verwahrt sich Mahanthappa, dessen üb23rige Arbeiten auch nicht immer von seiner Herkunft zeugen. Seine Musik sei keine Fusion, sondern eine »wahre Synthese von Ideen und Konzepten, die sowohl aus dem Jazz als auch aus der indischen Musik kommen. Außerdem bin ich Indo-Amerikaner. Diese Musik zu spielen und zu komponieren ist eine Möglichkeit, meine Identität als Inder und Amerikaner auszudrücken.« Natürlich kann er auch ganz anderen Gebrauch von beiden Traditionen machen als jemand, der sich durch Einfühlungsvermögen in ein fremdes Element versetzen muss. Dennoch hatte der Berklee-Absolvent viele Jahre um die indische Musik einen Bogen gemacht, war skeptisch in Bezug auf die zum Klischee gewordenen indischen Anleihen im Jazz. Da schenkte ihm sein Bruder ein Album des südindischen Altsaxofonisten Kadri Gopalnath, den er schließlich in Indien aufsuchte.
Auf »Kinsmen« trifft der von der Freiheit des zeitgenössischen Jazz geprägte Mahanthappa nun auf diesen »Kaiser des Saxofons«, der einst als erster das Instrument in die klassische Musik seiner Heimat einführte, deren Improvisationstradition strengere Regeln, doch in einigen Parametern wieder größere Vielfalt kennt. Man lasse sich nicht vom Instrument täuschen: Gopalnath geht nicht nur ein typischer Jazzsound ab, er improvisiert darauf ebenso urindisch wie der vorhin erwähnte Geiger, dessen Instrument in Indien allerdings eine altehrwürdige Tradition besitzt. Die zur indischen Musik passende Technik musste Gopalnath selbst entwickeln: Deshalb beherrscht er etwas, das nur wenigen Jazzsaxofonisten – Individualisten wie Hayden Chisholm etwa – gelingt: ein perfekter Umgang mit Mikrotönen jenseits der chromatischen Skala. Mit diesem im Meditationssitz völlig Unerhörtes spielenden Altmeister führt der energiegeladene Jüngere, dessen Improvisationen funky Funken versprühen, Dialoge von atemberaubender Dichte und Stringenz. Das Album – fünf längere Stücke mit langsamen Einleitungen (Alap) – lebt vom kontrastierenden Austausch der beiden Altisten, was klingt wie ein lebendiges, erfüllendes Gespräch zwischen alter Väterwelt und Neuer Welt.

Marcus A. Woelfle, 05.04.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2009



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