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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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Das Vivaldi-Archiv in Turin

Ein Tagebuch in Noten

Hell leuchtete Vivaldis Stern über Venedig. Doch der Nachlass des in Wien verarmt gestorbenen Vielschreibers gelangte auf vielen Umwegen nach Turin. Jörg Königsdorf blickte in der dortigen Nationalbibliothek den Herausgebern einer neuen Notenausgabe über die Schultern, die mit einer stetig wachsenden, 450 Alben umfassenden CD-Edition Hand in Hand geht.

Als Carlo Goldoni im Jahre 1735 Antonio Vivaldi seine Aufwartung machte, war er gleichermaßen fasziniert wie amüsiert: Während er sich mit dem ehrwürdigen Maestro unterhielt, habe dieser gleichzeitig noch eine Messe fertig komponiert – ohne dass diese Beschäftigung ihn im Geringsten bei der Diskussion mit dem Librettisten gestört hätte. Ob auch das Fagottkonzert, dessen Partitur gerade aufgeschlagen auf dem Lesetisch der Turiner Nationalbibliothek liegt, so aus dem Ärmel geschüttelt wurde? Die beiden Stimmen von Soloinstrument und erster Violine, die sich mit den Notenköpfen voran ein hektisches Wettrennen bis zum finalen Doppelstrich zu liefern scheinen, vermitteln zumindest nicht gerade den Eindruck, als habe der Komponist bei der Niederschrift lange auf seinem Federkiel herumkauen müssen. »Eindeutig ein spätes Werk«, diagnostiziert Federico Maria Sardelli, »die Notenschrift ist fahrig, frische Tinte wird immer erst in der allerletzten Sekunde nachgetankt und verdoppelnde Stimmen werden gar nicht erst ausgeschrieben.«
Wohl kaum jemand kennt die Manuskripte der 450 Vivaldiwerke, die hier in 27 dicken Folianten lagern, so gut wie Sardelli: Seit zwei Jahren amtiert der Flötist, Dirigent und Musikwissenschaftler sozusagen als Vivaldi- Großinquisitor und entscheidet darüber, welche neu aufgefundenen Kompositionen als echt gelten dürfen und eine Nummer in dem nach seinem Vorgänger Peter Ryom benannten Werkverzeichnis erhalten. Eine Aufgabe, für die der Werkkorpus der sogenannten Sammlung Mauro Foá – Renzo Giordano eine einzigartige Grundlage bietet. Ende der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts sorgten die beiden Stifter dafür, dass der Nachlass des Komponisten, der sich über nahezu zwei Jahrhunderte in der italienischen Adelsfamilie Durazzo befunden hatte, in die Turiner Bibliothek gelangen konnte. Ein Schatz von allein 296 Instrumentalkonzerten, 14 vollständigen Opern, dazu Motetten, Kantaten, Sonaten – ein Lebenstagebuch in Noten, das nicht nur über die Entwicklung des typischen Vivaldistils Auskunft gibt, sondern auch über die Umstände, unter denen jedes Werk entstand.
Die Turiner Manuskripte zeigen einen Komponisten, der unter Rationalisierungsdruck seine Notenhandschrift immer weiter verknappte und der im Zuge seiner wachsenden Berühmtheit auch davon ausgehen konnte, dass seine Interpreten wussten, was sie zu machen hatten. »Vivaldis Partituren waren meist Arbeitspartituren«, erklärt Sardelli: Zeugnisse eines Prozesses, in dessen Verlauf das betreffende Werk bei den Proben transponiert, gekürzt, an individuelle Interpretenfähigkeiten angepasst, ja manchmal fast neu komponiert wurde. Etwa bei dem Klarinettenkonzert, das Sardelli als Nächstes aufschlägt: Zwischen die fieberkurvenhaft aufgebäumten Solopassagen sind einfach die Schnipsel einer Streichersonate als Tuttipassagen auf das Notenblatt geklebt – ein besonders drastisches Zeugnis für Vivaldis ausgeprägte Neigung, eigene Einfälle zu recyceln. Diese barocke »copy & paste«- Technik macht Sardellis Aufgabe freilich auch ein gutes Stück einfacher. Der Echtheitsbeweis für neu aufgetauchte Werke, die eventuell aus der Feder Vivaldis stammen könnten, ist fast immer eine Parallelstelle zu einem Turiner Autograf. So bei der Motette, die ein Musiker aus Sardellis Ensemble Modo Antiquo vor Kurzem in Assisi entdeckte und in der fast identisch der Schlusschor aus dem Oratorium »Juditha triumphans« auftaucht. Dabei hat die Jagd nach verschollenem Vivaldi in den Bibliotheken gerade erst begonnen – seit das Großprojekt der Vivaldi-Edition Musik des prete rosso einen neuen Popularitätsschub verschafft hat, häufen sich auf Sardellis Schreibtisch die Anfragen aus ganz Europa: Kantaten, Sonaten, Konzerte, aber auch ganze Opernakte – und ein Ende ist nicht abzusehen …

Jörg Königsdorf, 29.03.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2009



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