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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Nikolaus Harnoncourt

»Der Haydn war wirklich eine Granate«

Im RONDO-Interview mit Robert Fraunholzer erklärt Nikolaus Harnoncourt, was an Haydn der Witz ist, an Karajan das Besondere und seine Angst vor dem eigenen Zorn. Und da er im Dezember 80 Jahre alt wird, stellt sich auch die Frage nach dem eigenen Spätstil. Aber die beantwortet seine Frau Alice …

RONDO: Herr Harnoncourt, seit über 50 Jahren setzen Sie sich für Haydn ein. Hatte diese Mission Erfolg?

Nikolaus Harnoncourt: Im Moment sieht es fast so aus. Aber man muss vorsichtig sein. Ich bin ein überzeugter Pessimist. Für mich ist eigentlich jeder Optimist ein Trottel. Nachdem ich allerdings mit einer Optimistin verheiratet bin, kann es auch damit nicht ganz so arg sein.

RONDO: Sie ergänzen einander?

Alice Harnoncourt: Ja.

RONDO: Ist das Problem Haydns in Wirklichkeit Mozart?

Harnoncourt: Ja, Haydn von Mozart aus zu denken, ist ein großer Fehler. Wir nehmen aus diesem Grunde Haydn nicht genügend ernst. Ich bin vor vielen Jahren mit Zustimmung meiner Frau – wir hatten damals schon vier Kinder – aus meiner gesicherten Lebensstellung bei den Wiener Symphonikern herausgesprungen. Denn ich wollte Mozarts Sinfonien, so wie sie damals gespielt wurden, kein einziges Mal wieder so aufführen. Ich muss sagen: Haydn habe ich damals selber noch nicht verstanden.

RONDO: Was kann man an Haydn nicht verstehen?

Harnoncourt: Zunächst einmal wurde er fast grundsätzlich als Einspielstück ins Programm genommen. Praktisch ungeprobt. Wir haben auch in unserem Kreis – so um 1948/49, meine Frau war dabei – zusammengesessen und gerätselt: Was ist dran an diesem Komponisten? Was muss man tun, um ihn wirklich zu verstehen? Und wir waren einstimmig der Meinung: Bach und Mozart muss man interpretieren, Haydn muss man nur spielen.

RONDO: Ein Irrtum?

Harnoncourt: Ein großer Irrtum. Haydn kann zerspielt werden. Und ohne eine genaue Durchdringung des Witzes braucht man die Sinfonien Haydns erst gar nicht spielen.

RONDO: Worin besteht Haydns Witz?

Harnoncourt: In einer Palette unendlich vieler Farben, die in einer Weise benützt werden, wie man sie sonst nicht benützt. Die Rhetorik wird von Haydn unakademisch befolgt. Daran zeigt sich, dass Haydn der Prototyp eines Autodidakten war. Wenn Haydn eine klassische Ausbildung gehabt hätte – wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre?!

RONDO: Ein Beispiel für Haydns Witz, bitte!

Harnoncourt: Im Finale der Sinfonie Nr. 95 geht Haydn vor der Reprise auf eine Art Trugschluss in E-Dur – das wäre die Dominante in a-Moll. Aber das Angekündigte kommt nicht. Für uns ist es heute freilich gar nicht so leicht, diese Dinge herauszuhören. Die Verfremdungen kommen uns nicht mehr wie Verfremdungen vor.

RONDO: Beliebt ist die Auffassung: »Je später das Haydnwerk, desto besser.«

Harnoncourt: Blödsinn! Wir spielen jetzt zur Eröffnung des Haydn- Festes in Eisenstadt vier Sinfonien, und darunter die erste, die noch für den Grafen Morzin geschrieben ist. Uns sind die Augen rausgefallen vor Überraschung. Die Sinfonie beginnt piano und mit einem nachfolgenden Crescendo. Das ist so ähnlich, wie wenn Beethoven seine erste Sinfonie mit einer Dissonanz beginnt. Der Haydn war wirklich eine Granate.

RONDO: Hat Haydn seiner Wirkung dadurch geschadet, dass er zu viel komponiert hat?

Harnoncourt: Haydn war sicherlich der Meinung, dass seine Werke mit ihm sterben würden – so wie übrigens Mozart und Bach auch. Im 18. Jahrhundert wurde nur zeitgenössische, aktuelle Musik aufgeführt. »Schöpfung« und »Jahreszeiten« hielten sich relativ lang. Die Sinfonien kamen erst zurück, als die Programme gemischt wurden. Dass ein Konzert mit einer Haydnsinfonie beendet wurde, habe ich allerdings nie erlebt.

»Ich dirigiere sicher vieles langsamer, aber nicht langsamer als früher, sondern langsamer als andere.«

RONDO: Bitte einige Tipps für Haydneinsteiger!

Alice Harnoncourt: Bei den Sinfonien, glaube ich, sind die »Pariser Sinfonien« ein sehr gutes Einstiegspaket.

Harnoncourt: Unter den Chorwerken sollte man die »Harmoniemesse« hören – die Mutter von Beethovens »Missa solemnis«. Verstehen wird man Haydn aber vielleicht am besten bei den »Jahreszeiten«. Sie sind wie der Lebensweg eines Menschen. In meinen Augen das Opus Summum.

RONDO: Im Dezember werden Sie 80.

Harnoncourt: Wenn ich es erlebe.

RONDO: Gibt es bei Ihnen einen Spätstil?

Harnoncourt: Ich kann das nicht beantworten. Ich versuche, ein Werk nicht oft zu machen. Und ich glaube, dass man ganz schön in eine Sackgasse gerät, wenn man von einem Spätstil spricht. (Zu Alice Harnoncourt) Was würdest du sagen?

Alice Harnoncourt: Es gibt schon einen späteren Stil. Er ist zum Teil viel radikaler geworden im Ausdruck. Obwohl es immer geheißen hat, er war früher so radikal. Das war mehr äußerlich. Früher hat man zum Beispiel immer gesagt, er macht so starke Akzente.

Harnoncourt: Heute machen alle starke Akzente. Ich habe immer am meisten Arbeit auf die lyrischen Teile verwendet. Den Akzent kriegen Sie mit zwei Worten hin. Sagen Sie dem Pauker, er soll mehr draufhauen und dann abdämpfen, und den Streichern, sie sollen den ganzen Bogen nehmen, schon ist das da. Ich dirigiere sicher vieles langsamer, aber nicht langsamer als früher, sondern langsamer als andere. Meine Nachfolger sind alle sehr schnell. Mit Schnelligkeit kann man sehr schnell Erfolg haben.

RONDO: Erstaunlicherweise war Herbert von Karajan für Sie kein Feindbild, sondern eher ein Vorbild. Inwiefern?

Harnoncourt: Vor allem der junge Karajan. Das Erste, was ich mit ihm machen konnte, nachdem er mich engagiert hatte, war ein kompletter Beethovenzyklus, in Wien 1953. Ich muss sagen, das Konzept von diesem Beethovenzyklus war genau, wie ich mir das vorgestellt hatte. Später, in den letzten Jahren, wo er nach Wien kam, habe ich sein Verständnis für Bruckner sehr bewundert. Er hatte das Bäuerliche und die Herkunft von der österreichischen Folklore genau verstanden.

RONDO: Wenn man Fotos mit weit aufgerissenen Augen von Ihnen sieht, denkt man, der Mann wird immer wilder. Können Sie explodieren?

Harnoncourt: Ich konnte wütend werden als kleines Kind. So schlimm, dass ich Angst hatte vor meinem eigenen Zorn. Ich habe mir dann mit neun oder zehn Jahren ein Buch gekauft über Selbsterziehung. Ich weiß das deshalb so genau, weil meine Mutter mit mir nach Wien gefahren ist zu einem Homöopathen. Da war ich vielleicht zwölf. Und der Homöopath hat mit dem Hämmerchen gegen mein Knie geklopft – und die Reflexe haben nicht funktioniert. Dann hat er einen Trick angewendet, und dann haben sie funktioniert. Der Arzt hat mir dann gesagt, ich hätte mir diese Reflexe abtrainiert. Und Sie werden lachen: Das ist bis heute so. Da können Sie hämmern, so viel Sie wollen. Ich muss mich ablenken, damit es doch geht.

RONDO: Wohin ist die Wut verflogen?

Harnoncourt: Ich weiß nicht. Aber ich töte niemanden (lacht nicht).

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Haydn

Die Jahreszeiten

Nikolaus Harnoncourt, Concentus Musicus Wien, Arnold Schoenberg Chor

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Robert Fraunholzer, 29.03.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2009



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