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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Alice Sara Ott

Melancholie und Gesellschaft

Ihre Eltern stammen aus Gütersloh und Tokio. Sie selbst empfindet ihre »west-östliche« Herkunft als Bereicherung, weil sie ihr in verschiedenen Momenten größere Reaktionsmöglichkeiten offeriert. Schon sehr früh wusste die Pianistin Alice Sara Ott, dass Töne höhere Worte sind. Sie zählt zur Spezies des reflektierten Künstlers und sie ist eine enorme Begabung – Jürgen Otten hat sich mit ihr unterhalten.

Das Stück hüllt sich in a-Moll, ein Lento. Schubertisch schwer wiegen anfangs die leeren Quinten, und es dauert eine Weile, bis die Melodie im Diskant zu sich findet. Frohmut will sich gleichwohl nicht einstellen, allzu sehr lastet das Gewicht der Welt auf den Schultern dieser Grande Valse Brillante. In Takt 52 plötzlich ein Hauch von Idealismus: Das Geschehen wendet sich gen Dur, sostenuto. Und noch ein weiteres Mal strebt dieser Walzer hin zum anderen Tongeschlecht. Am Ende aber wieder nur die pure Resignation.
Frédéric Chopin schrieb den Walzer op. 34,2 im Februar 1831, als er, in Wien weilend, Kunde erhielt von der Niederschlagung des polnischen Aufstandes gegen die russischen Fremdherrscher. Beinahe in jedem Takt kann man hören, wie erschüttert der Komponist war. Und es dämmerte ihm in diesen Sekunden, wie schwerwiegend jene Worte gewesen waren, die er im Brief an einen Freund notiert hatte, als er über Polens Grenzen hinaus in die westliche Welt getreten war: »Ich verlasse meine Heimat, um zu sterben.«
Hört man dieses Stück in der Interpretation von Alice Sara Ott, dann wird evident, wie nachgerade resignativ Chopins Weltanschauung gewesen sein muss. Mit feinen Strichen zeichnet die junge Münchner Pianistin das Bild eines gleichsam verwundeten Tanzkörpers, ja im Grunde einer Pièce, die gar kein Tanz mehr sein will. Sondern Ausdruck von Wehmut und Verzweiflung. In solchen Momenten spürt man die enorme Begabung. Über die rein pianistische Bravour hinaus offenbart sich ein kluges Nachdenken über Musik, wie es auch bei Liszt und Ravel virulent ist, eines Denkens, das auf Wissen gründet. Jahrelang hat sich Ott mit Leben und Werk des Komponisten auseinandergesetzt, hat sie Chopins Briefe gelesen, seine Biografie durchleuchtet. Das Ergebnis ist eine tiefsinnig-berührende Wiedergabe, die auch der Tatsache Rechnung trägt, dass Chopins Walzer, selbst wenn sie Ironie bergen (wie im Fall des Ges-Dur-Stücks op. 70,1 oder dem »Minutenwalzer«) von Werken der gleichen Gattung Wiener Prägung Lichtjahre entfernt liegen.
So weit auseinander wie Gütersloh und Tokio. Aus diesen Städten stammen ihre Eltern. Dort, wo sie sich unverstanden fühlte, sagt sie, habe ihr die Musik geholfen – sprachmächtigste aller Künste. Also verbrachte sie schon den Großteil ihrer Kindheit am Klavier, obwohl die Mutter, eine studierte Pianistin, erhebliche Bedenken gegen eine »Karriere« hatte. Aber was will man machen gegen ein nach eigener Einschätzung stures Wesen, das schon mit sieben Jahren bei »Jugend muziert« ganz oben auf dem Treppchen stand. Also nahm das Schicksal seinen Lauf, inklusive einer Häufung von Preisen. Aber selbst die machen noch lange keinen großen Künstler. Und auch Obsession genügt nicht, um Bedeutsames hervorzubringen. Das weiß auch die im Gespräch erfrischend meinungsstarke Pianistin: »Man kann so viel üben, wie man will. Wenn man keinen Draht zur Musik hat, wird es sehr schwierig. Und wenn der Mensch nicht wächst, wächst die Musik auch nicht. Die Musik erlaubt den dummen Pianisten nicht.« Den reflektierten hingegen schon. Und ebenso den kühnen Geist, der solche Sätze sagt wie diesen: »Ein rosafarbenes Leben produziert keine großen Künstler, aber man muss nicht zwingend 40 Jahre alt werden, bevor man Mozart spielt. Wenn man die Musik und ihren Schöpfer versteht, spielt das Alter keine Rolle. Selbst wenn man in einem höheren Alter reifer interpretiert, verändert das nicht den Wert der jungen Interpretation.« Bedürfte es eines Beweises für dieses Theorem, Alice Sara Ott liefert ihn in ihrem Chopin-Spiel. Und nicht nur im Fall des legendären a-Moll-Walzers.

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Jürgen Otten, 15.02.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2010



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