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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Edward Elgars Cellokonzert

Auf der Suche: Verlorene Zeit, verlorene Welt

Der Erste Weltkrieg erschütterte Edward Elgars Glauben an die patriotischen, die staatstragenden Klänge. Im Sommer 1919 gelang ihm noch einmal ein letztes Meisterwerk, in dem erstmals so etwas wie Zerrissenheit und Abkehr vom »repräsentativen « Klangteppich aufscheint. Bisher galt die Einspielung mit Jacqueline du Pré als absolute Referenz. Thomas Rübenacker nahm die fabelhafte Neuaufnahme von Sol Gabetta zum Anlass, uns durch Geschichte und Gegenwart von Elgars Cellokonzert zu begleiten.

Der letzte Musikmeister des viktorianischen Zeitalters, als das britische Empire noch brummte, war der 1857 in Worcester geborene Edward Elgar, von Hause aus Geiger und Organist, 1904 von König Edward VII. zum Ritter geschlagen und fortan »Sir Edward Elgar«. Er war ein bekennender Verehrer von Johannes Brahms und wollte auch der »britische Brahms« werden – wurde aber eher ein »britischer Richard Strauss« der markigen Aufschwungsemphase, sowie der Präzeptor einer »repräsentativen«, den Status quo verklärenden, schon im Entstehen nostalgischen Empire-Musik. Seine Lieblings-Vortragsbezeichnung war »nobilmente«, ein bisschen verschlucktes Lineal, ein bisschen verhaltene Leidenschaft, und immer auch die »stiff upper-lip«. Wie staatstragend er komponieren konnte, zeigt sein »Pomp and Circumstance«-Marsch Nr. 1: Dessen langsamer Mittelteil, später noch mit dem Text »Land of Hope and Glory« unterlegt, wurde zur bereits dritten Nationalhymne der Briten gekrönt, nach »God Save the King/Queen« und Thomas Augustine Arnes »Rule, Britannia!«. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Elgar das Stück selbst nicht mehr hören.
Überhaupt war Elgar privat so gar nicht »nobilmente«, sondern ein knorriger, rotgesichtiger Landedelmann, der gern im Kreis seiner Jagdhunde nächtigte, seine spätere Frau Alice mit zärtlicher Rauheit umwarb und dem Single Malt Whisky der schottischen Highlands deftiger zusprach, als es seinem Blutdruck guttat. Gleichzeitig, wie gesagt, komponierte er die Musik für ein Größtbritannien, das bereits am Abdanken war – als eigentlich letzter »Orpheus Britannicus«, der stets »nobilmente« in die Saiten griff. Der Erste Weltkrieg erschütterte Elgars Glauben an die patriotischen, die staatstragenden Klänge, und bald nach dem Krieg trieb der Tod seiner geliebten Frau Alice die allgemeine Verzweiflung Elgars noch ins Privateste, wie mit einem zugespitzten Pflock: Er würde nie wieder komponieren, erklärte er. Er tat es dann aber doch wieder, lediglich sporadisch, und es gelang ihm auch noch einmal ein letztes Meisterwerk, im Sommer 1919, das Konzert für Violoncello und Orchester in e-Moll, sein Opus 85. Das klingt aber jetzt ganz anders als zuvor ...
Darin nämlich ist erstmals die Zerrissenheit zu hören, die Qual des Erduldeten – und eine Art von kompositorischer Bescheidenheit: fast kein markiges Auftrumpfen mehr, keine orchestrale Fülle, kein »repräsentativer « Klangteppich. Stattdessen: oft auch Nachdenklichkeit, Zweifel, ein Orchesterapparat, der aufs Notwendigste verknappt wurde und das rhapsodierende Solocello nie stören will (erst in den letzten neun Takten des Finales muss der Solist sich gegen das Tutti behaupten – und geht dabei wahrscheinlich unter. Oder aber: wird getragen). Dennoch, auch hier findet noch Leidenschaft statt, und nicht nur verhalten-britisch diesmal, sondern vom Schmerz befeuert und von der tiefen Skepsis, der Melancholie allein gezügelt. Elgars Cellokonzert ist ein Werk der Trauer, aber nie des Selbstmitleids. In der »geläuterten« Rekapitulation des Beginns, nach der erschütterten Finalcoda, sagt der Komponist uns: Der menschliche Geist rafft sich immer wieder auf und schreitet voran, was immer vorgefallen sein mag. Ja, spätestens in seinem Cellokonzert wurde der knorrige Landedelmann und »Orpheus Britannicus« zum Philosophen. Die Uraufführung am 27. Oktober 1919 in der Londoner Queen’s Hall war eine Katastrophe. Albert Coates, ein noch junger Mann, der zuvor Oper in St. Petersburg dirigiert hatte, wollte beim London Symphony Orchestra Fuß fassen und hatte angeboten, sechs Saisonkonzerte gratis zu leiten. Fürs Erste hatte er sich ein brillantes russisches Programm gewählt – und ausgerechnet dahinein setzte man ihm die Uraufführung des Elgarkonzerts wie einen Hirschkäfer auf eine Sahnetorte (Elgar sollte es selbst dirigieren). Coates probte seine Russen so ausgiebig, dass dem LSO, dem Solisten Felix Salmond und Elgar kaum Zeit übrigblieb: Das Desaster war also vorprogrammiert (zumal es keine gedruckten Stimmen gab). Erstaunlicherweise erkannten hellhörige Kritiker, die das Spiel erbärmlich fanden, die wahre Größe des Werkes durch die mangelhafte Aufführung hindurch und priesen es: Welcher Kritiker kann das heute noch? Salmond aber war davon so traumatisiert, dass er Elgars Cellokonzert nur ein einziges Mal und nie wieder spielte, eben bei der Premiere. Dann übernahm ein 19-jähriger Orchestercellist, dessen Name untrennbar mit dem Werk verknüpft bleiben sollte: John Barbirolli.
Später gab es Plattenaufnahmen mit Casals, Tortelier, Yo-Yo Ma oder Steven Isserlis, aber die zu Recht berühmteste ist die anno 1965 mit der jungen Jacqueline du Pré, Schülerin von Casals und Tortelier, und das London Symphony Orchestra wird diesmal geleitet – von Sir John Barbirolli. So überwältigend gelang diese Aufnahme in ihrer ungeschützten »Freiheit« und kaum gezügelten Leidenschaftlichkeit, dass der große russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch nach dem Hören sagte: »Ich spiele nie wieder das Elgar-Cellokonzert. Es gehört dieser Frau.«

Neu erschienen:

Edward Elgar

Cellokonzert u.a.

Sol Gabetta, Danish National Symphony Orchestra, Mario Venzago

RCA/Sony

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Same, same, but different: Kontrolle ist guuut – und Sol Gabettas Elgar fabelhaft

Ein Kollege schrieb mal, das Elgar-Cellokonzert – letztes, trauriges Meisterwerk des Komponisten – sei auch deshalb so ungewöhnlich, weil es mit dem unbegleiteten Soloinstrument beginne – »so, als ob Shakespeares ›Hamlet‹ völlig unvermittelt mit dem ›Sein oder Nichtsein!‹- Monolog anfi nge«. Nun, der Vergleich mit dem Dänenprinzen kommt in den Sinn, weil Sol Gabetta »ihren« Elgar mit dem (übrigens vorzüglichen) Nationalen Dänischen Sinfonieorchester einspielte. Und noch etwas kommt in den Sinn: Gabetta, oft mit Jacqueline du Pré verglichen, weist die Assoziation weit von sich – nein, nein, sie sei nicht von du Pré beeinflusst, habe sie erst sehr spät überhaupt von Platte kennengelernt. »Jacqueline du Pré hat viel mehr losgelassen in alle möglichen Richtungen, und ich bin kontrollierter.« Genau das kann man jetzt anhand dieses Paradestücks von du Pré hören: Gabetta ist viel kontrollierter. Und wie sie kontrolliert ist!
Aber das Stück trägt es. Um genau zu sein: Man hört vieles anders, als man es bei du Pré hörte, die Aufnahme ist eine echte Alternative. Wo du Pré leidenschaftlich und bezwingend durch die Musik fegte, entdeckt Gabetta wunderbare Details, sie ist nachdenklicher, und das passt ja zum Werk, das Elgars tiefmelancholische, vom Krieg und von privaten Tragödien gefärbte Antwort auf seine vorher oft so hohle Repräsentationsmusik war. Gabetta ist jetzt ungefähr so alt, wie du Pré damals war, und man staunt, wie zwei so junge Frauen den weltwunden Abgesang eines alten Mannes so zu gestalten wissen – und vor allem: so unterschiedlich zu gestalten wissen. Du Pré reißt immer noch mit, Gabetta macht eher nachdenklich. Und animiert häufig auch dazu, dem Augenblick ein Goethe’sches »Verweile doch, du bist so schön!« zuzurufen ... (Die Piècen von Elgar, Dvořák, Respighi und Vasks sind da strikt Füllmaterial, allerdings ebenso gut gespielt.)

Thomas Rübenacker, 08.02.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2010



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