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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Musikstadt

Český Krumlov

Fast unbemerkt an der Lieblingsstrecke der Übersee-Touristen von Prag nach Wien liegt Český Krumlov – und dort das besterhaltene Barocktheater überhaupt.

Orpheus ist müde. Wie oft hat er heute schon seine geliebte, aber tote Euridice betrauert. Noch einmal lässt er seine Stimme anschwellen: „Euridice, Euridice!“ und wirft sich auf die Brust der Frau, die vor ihm unbeweglich unter einem Schleier auf einem Marmorkatafalk liegt. Hinter ihm flackern Feuerschalen, neben ihm stehen stumm die Freunde. Es ist dunkel, nur die wie versteinert wirkende Gruppe ist in unwirkliches Licht getaucht, von wehen Klängen umschwebt.
„Und danke, das war’s“, sagt eine Stimme aus dem Nichts auf Tschechisch. Leben kommt in die Szene, Licht geht an, das Team stellt die Handkamera ab, die ihren Träger und Führer mit einem mächtigen System aus Gewichten und Gegengewichten gefangen hält. Die Feuerwehrmänner treten vor, denn schließlich gilt es, hier ein einmaliges, über 250 Jahre altes Ambiente zu schützen. Die leichtbekleidete Tote ist fröstelnd aufgesprungen, in unförmige Isolierstiefel und eine Daunenjacke geschlüpft. Die Chormitglieder holen sich Kaffee aus dem Spender, und Orpheus kontrolliert seine Szene auf dem Monitor. Ja, auch Bejun Mehta ist zufrieden.
Der Countertenorstar, der auf den großen Opernbühnen Europas und Amerikas brilliert, der vor allem für seine packenden dramatischen Darstellungen der einst von den Kastraten gesungenen Barock-Heroen gefeiert wird, ist diesmal nicht nur Akteur, sondern auch Produzent. Und im außergewöhnlichen Ambiente des ehemals Fürstlich Schwarzenbergschen Schlosstheaters in Böhmisch Krumau, dem tschechischen Český Krumlov, wird nicht nur eine Oper inszeniert und live gesungen. Hier wird gleichzeitig ein Film gedreht, dessen heimliche Hauptperson nicht aus Fleisch und Blut ist – sondern die alte Barockbühne mit ihrer funktionierenden Kulissenmechanik und der Originalausstattung.
Und deshalb brennen jetzt auch ausnahmsweise bei den Einstellungen, die die Bühne von rückwärts zeigen, sogar die Feuerschalen an der Rampe und die Kerzen in den Blechkisten der ersten drei Kulissengassen – unter den Argusaugen der extra verstärkten Feuerbrigade wie auch des wachsamen Schlosskastellan, der dieses 1992 unter die Ägide des UNESO-Kulturerbe gestellte Schmuckstück hütet wir seinen Augapfel.

Märchenhafte Illusion vor 200 Plätzen

Hier ist ein immer noch schlafendes Schmuckstück zu bewundern, herausgeputzt, aufgefrischt in seinen Farben und doch von einer ganz anderen Epoche erzählend. Während draußen die Horden japanischer und chinesischer Touristen, zum Teil mit Wikingerhelmen, alle aber mit Fotoapparaten und Handys bewehrt, vorbeiströmen, scheint hier drinnen immer noch der Geist des 18. Jahrhunderts wie in einer Zeitkapsel eingefangen. Durch den gleichen langen Gang ist der Fürst vom Schloss auf einer dreistöckigen Mantelbrücke trockenen Fußes über einen tiefen Abgrund in die Loge gekommen. Und die befindet sich im Theater, das isoliert am Ende des – gleich nach dem Prager Hradschin – zweitgrößten böhmischen Schlosses liegt.
Hier, in dem kleinen, nur 200 Plätze fassenden Auditorium, ist bis heute alles Illusion, die sich im trüben Licht der Wachskerzen (die jetzt durch flackernde Elektroden ersetzt sind) noch märchenhafter ansah. Ein fein marmorierter Raum, die Fortsetzung des mit über 134 maskierten Gestalten geschmückten Festsaales im Schloss, in dem sich ein Himmel auftut, durch den triumphierende Götter, allen voran Apoll als Herr der Musen, fliegen. Der Bühnenrahmen, geschirmt von Leuchter haltenden Putti, glänzt golden und rot. Auf der Bühne scheint sich ein herrlicher Saal aus goldumwundenen kannelierten Säulen im Unendlichen zu verlieren.
Wenn dem Herrn dieses Spektakel mal nicht gefiel, ließ er den Vorhang seiner Loge herunter und alles stoppte, der Zauber fiel zusammen. Man sah jetzt, dass alles nur Holz, Gips, Farben und Leinwand, Latten, billige Stoffe und ein wenig Glitzer war. Und doch erstanden hier Feenreiche und Meerstürme, historische Städte und wilde Wälder. Joseph Adam von Schwarzenberg war höchster Hofrat und erster Hofmeister bei Kaiserin Maria Theresia in Wien. Natürlich hielt er sich viel dort auf, doch im Sommer weilte man auf dem Stammschloss in Südböhmen, heute eine Autostunde von Linz entfernt. Und weil die Kaiserin immerhin 16 Mal schwanger war und dann immer alle Vergnügungen in der Hauptstadt vorbei waren, ließ er sich seinen eigenen Theaterbetrieb immer mehr kosten und professionalisierte ihn.
Für die Hochzeit seines Erben Johann Nepomuk ließ er, der vor allem die Buffa liebte, 1768 von seinem Hofkomponisten Giuseppe Scarlatti, wohl ein Enkel Alessandros und Neffe Domenicos, die Oper „Dove è amore è gelosia“ schreiben. Diese kam kürzlich auch auf DVD heraus, aufgezeichnet am Ort der Uraufführung und versehen mit einem wunderbaren Dokumentarfilm über Schloss und Theater. Das war freilich nur der erste Streich: Das Barocktheater, das besterhaltenste der Welt, mit einem noch vollständigeren Fundus als dem im schwedischen Drottningholm, ist nämlich kaum sichtbar. Schon um 1800 war dort das spielerische Vergnügen wieder vorbei, die Schwarzenbergs zogen kurz danach in ein bequemeres, moderneres Schloss. Die Wunderkiste, hinten, im fünften Hof des lang gezogenen Komplexes, der über der auf einer Halbinsel der Moldauschleife sich duckenden Altstadt thront, fiel in einen fast 150-jährigen Schlaf, dem sich eine fast drei Jahrzehnte währende Generalsanierung anschloss.
Heute kann das Theater von maximal 100 Personen am Tag besucht werden, die sich zudem auf drei Sprachgruppen (tschechisch, englisch und deutsch) verteilen. Da kein Theater in der Nähe ist, wird es nur sporadisch bespielt, mit Oper so gut wie nie. So ist die DVD ein einzigartiges Medium, um die Tricks und Finessen, den Zauber und die Faszination dieser Bühne vorzuführen. Was mit der Scarlatti- Lustbarkeit gelang, die sofort mit dem Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, soll nicht nur fortgesetzt, sondern auch gesteigert werden.

„Orfeo“ als Gesamtkunstwerk

So entschieden sich die tschechische Produktionsfirma BVA International und die Firma Clasart Herbert Kloibers im Vorfeld des kommenden Gluck-Jahres (und dessen 300. Geburtstags am 2. Juli) für eine Verfilmung von „Orpheus und Euridice“. Aber eben nicht nur für eine Oper im historischen Ambiente, sondern für einen Film, bei dem der antike Sänger das barocke Ambiente verlässt, es als Theaterwelt entlarvt und in die Ungewissheit entschwindet – so wie auch Gluck das zu enge Korsett der Opera seria mit seinen Reformwerken sprengte, allen voran dem „Orfeo“. Und man wollte jetzt mit Stars arbeiten, neben Mehta singt Eva Liebau die kokette Euridice, die sich am Ende von Amors (Regula Mühlemann) olympischem Prunk verführen lässt und sich nicht weiterentwickelt, während Orpheus durch kahle Gänge in eine künstlerische Zukunft schreitet. So wie er vorher auf der nackten Bühne, zwischen Lattengerüsten und im Schnürboden, in Kavernen und auf Treppen mit den Geschöpfen der Unterwelt gekämpft hatte.
Das alles wird live gesungen, von dem in Perücken und nachgeschneiderten Livreen musizierenden Alte-Musik-Orchester Collegium 1704 unter Václav Luks bei Kerzenschein auch befeuernd gespielt. Geprobt hatte man ab Mitte September in Prag, dann wurde alles ins 160 Kilometer entfernte Böhmisch Krumau geschafft, wo man in nur sieben Tagen bei einem strengen Zeitplan die 90 Opernminuten drehte. Auch wenn es draußen herbstlich schön war, im Theater, das nur in den Sommermonaten bespielbar ist, wird es nicht eben warm. Das war – da bei jedem Take wieder gesungen und musiziert werden musste, weil man den künstlichen Playback-Eindruck vermeiden wollte – eine ordentliche Anstrengung für alle Beteiligten, besonders für den kaum in einer Szene fehlenden Bejun Mehta. Doch auf so hohem Niveau wurde hier schon lang nicht mehr Oper gespielt. Fast schien es, als ob das alte Theater stolz noch ein wenig mehr strahlte.

Der neue Orpheus

Bejun Mehta als Orpheus, das ist eine besondere Konstellation. Der gerade für seine Expressivität und Darstellungskraft gefeierte Countertenor hat die Rolle schon öfter gesungen, auch unter René Jacobs. Nach dem Film wird er sie das nächste Mal bei der Salzburger Mozartwoche verkörpern (23./31.1.), in einer Inszenierung von Ivan Alexandre unter der Leitung von Marc Minkowski, danach im Mai bei den Wiener Festwochen in einer Produktion von Romeo Castellucci. Gleichzeitig wird er mit dem Programm seiner neuesten, mit René Jacobs und der Akademie für Alte Musik Berlin aufgenommenen CD unterwegs sein. Die heißt – nach einer „Orfeo“-Arie – „Che puro ciel“ und versammelt Ausschnitte aus Reformopern von Gluck, sowie packende Szenen von Mozart, Traetta, Hasse und Johann Christian Bach.

Diverse

"Che puro ciel"

Bejun Mehta, Akademie für Alte Musik Berlin, Rene Jacobs

harmonia mundi

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http://www.ckrumlov.info/

Website des Schlosstheaters: http://www.castle.ckrumlov.cz/docs/de/
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Matthias Siehler, 07.12.2013, RONDO Ausgabe 6 / 2013



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