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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Marco Borggreve

Blind gehört

Mark Padmore

„Ich bin auch ohne Opern glücklich.“

Verständlichkeit, Expressivität, leidenschaftliche Gestaltung: Wenn der englische Tenor Mark Padmore in Berlin die Rolle des Matthäus-Evangelisten übernimmt, erfüllt er den Bericht vom Tod Jesu mit haarsträubender Gegenwärtigkeit. Nach seinem Start in der Barockmusik führte ihn seine Leidenschaft für intensive Wort-Tongestaltung seit 2000 quer durch das Liedrepertoire von Schubert bis Britten. Für das „Blind gehört“ während der Proben zur Matthäus-Passion in Berlin nahm sich der 52-Jährige die Zeit, immer erst nach Ende des jeweiligen Stückes zu kommentieren.

Das bringt mich zurück in die 80er Jahre, als ich diese Musik viel gesungen habe. In dieser Aufnahme war viel Freude an der Musik zu spüren. Es hat Atmosphäre, ist sauber gesungen, sehr homogen. Was ich an dieser Musik liebe – ich kenne das Stück nicht –, sind die unerwarteten Harmoniewechsel. Jeder Akkord kommt überraschend, deshalb ist die Intonation sehr wichtig, und wenn das funktioniert, ist es für die Sänger sehr befriedigend. ... Das war eine schöne Zeit, als ich mit den Tallis Scholars, The Sixteen oder The Hilliards gesungen habe, wir sind viel getourt, haben viel aufgenommen: Gesualdo, Perotin usw. Es gab jede Woche neue Stücke zu entdecken. Und man steht nicht so unter Druck wie als Solist. Andererseits steht immer der Gruppenklang im Vordergrund, nicht die Persönlichkeit des einzelnen Sängers. Wahrscheinlich hätte ich heute noch Spaß daran, im Ensemble zu singen. Aber das ergibt sich nicht mehr. ... Die Aufnahme hat mir gefallen. Ich fürchte aber, dass dieser Klang, der in den 80er Jahren sozusagen erfunden wurde, weit von dem entfernt ist, wie es ursprünglich geklungen hat. Manchmal wünsche ich mir, es gäbe Ensembles, die uns ein bisschen mehr schockieren würden. Dieser Klang ist uns inzwischen so vertraut. Er ist ja auch sehr schön, rund und sauber, aber man könnte es vielleicht auf eine andere Art machen, die eine rauere, dringlichere Qualität hätte.

Carlo Gesualdo

Responsoria 1611, In monte Oliveti

Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe

Phi/Note 1

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Peter Pears’ Stimme erkennt man nach einer Sekunde. Ich habe viel Lebenszeit mit historisch informierter Aufführungspraxis verbracht, mit Philippe Herreweghe, William Christie, John Eliot Gardiner und anderen. Als Roger Norrington Beethovens Neunte machte, sang ich im Chor mit. Diese Leute nahmen sich die Stücke, die in einer ganz bestimmten Art Teil des Repertoires waren, warfen alle Traditionen über Bord und setzten nochmal völlig neu an. Das war hochinteressant, das waren aufregende Zeiten. Aber wichtig ist: Bach hat keine Aufführungspraxis definiert, er ist nicht davon ausgegangen, dass seine Werke nach ihm weiterleben würden. Ich habe mit Paul McCreesh die Matthäus-Passion mit acht Sängern aufgenommen. Und jetzt arbeite ich mit Simon Rattle, Peter Sellars, den Philharmonikern und einem Chor von 80 Sängern. Wir sind an einen Punkt gekommen, wo wir nicht mehr in eine bestimmte Richtung gehen müssen.
Als ich angefangen habe, Platten zu kaufen, suchte man nach der „besten“ Aufnahme eines Stücks, der „Referenzaufnahme“. Wir sollten nicht länger in dieser Richtung denken, es gibt heute eine weite Bandbreite an Aufnahmen. Und die sollten uns zu Live-Aufführungen führen. Ich denke, es ist nicht wirklich möglich, ein Stück wie die Matthäus- Passion in seiner ganzen Tiefe und Fülle vor dem CD-Player zu erleben. Dies hier klingt sehr altertümlich mit dem Streichervibrato, das alles begleitet, der Fokus liegt auf dem Klang, nicht auf der Geschichte, die da erzählt wird. Es ist so langsam, damit alle „schöne“ Klänge produzieren können. Aber in der Passion geht es nicht um Schönheit. Wichtig ist, die Geschichte zu erzählen in all ihrer Dramatik. Aufnahmen waren ein großer Segen für uns, aber sie sind auch eine Gefahr: Alles soll perfekt sein, wir haben Unmittelbarkeit verloren, die Lust, Risiken einzugehen. Dies hier ist das Gegenteil von riskant. Ich freue mich, dass wir heute der Musik ihre Wichtigkeit zurückgeben können. Die Matthäus- Passion erzählt von Freundschaft, Liebe, Betrug, Tod, Humanität und so weiter. Das darf nicht nur schön klingen. Wenn Leute sagen: Ich liebe dieses ‚Ach, erbarme dich‘, das ist so schön – das geht am Werk vorbei.
... Ich denke, man muss die Passionen nicht unbedingt inszenieren, ein sehr gutes Konzert kann das auch transportieren. Aber ich liebe das intensive Proben, wie es bei Konzerten nicht möglich ist. Ich hasse es, wenn man nur einen Tag probt – weil ja doch alle wissen, wie es geht. Man braucht trotzdem diesen Prozess, man muss immer wieder über alles nachdenken, damit es funktioniert. Es gibt diese wunderbaren Zeilen von T. S. Eliot: „We shall not cease from exploration ...“, das ist so wichtig fürs Musikmachen. Auch wenn wir dann wieder zum Ausgangspunkt kommen, sind wir doch weitergekommen. ... Ich liebe die Rolle des Evangelisten, der erzählt die Geschichte, und das ist es, was mich interessiert. Da brauche ich keine Arie. Die besten Evangelisten, Ernst Haefliger, Peter Schreier, Christoph Pregardien, haben nicht unbedingt die schönsten Stimmen. Aber sie haben die Fähigkeit, den Text zu transportieren.

Johann Sebastian Bach

„Und er kam und fand sie aber schlafend“ aus "Matthäus-Passion"

Peter Pears, Herman Prey, Elly Ameling, Fritz Wunderlich, Stuttgarter Kammerorchester, Karl Münchinger

Decca/Universal

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Philip Langridge ist sozusagen mein Held. Ich habe mir noch als Schüler eine erste Platte von ihm gekauft, mit Tippett-Songs. Er war einer der intelligentesten Sänger, da zählte jedes Wort. Wiederum nicht die allerschönste Stimme, aber sie packt einen. Sein Captain Vere in Billy Budd und sein Peter Grimes waren unübertroffen. Er hatte ein erstaunliches Repertoire und war ein guter Schauspieler. Ich liebe das Theater auch und stehe sehr gern auf der Bühne, aber es gibt nicht viele Opernrollen, die ich gern singen würde. Billy Budd in Glyndebourne war toll, und ich freue mich, dass wir das bald an der Met bringen werden. Aber als Opernsänger ist man sehr oft und lange von zu Hause weg. Ich bin auch ohne Oper glücklich. Britten werde ich in den nächsten Jahren noch viel singen. Er hat so viel für Peter Pears geschrieben, das ist ein tolles Geschenk für die britischen Tenöre.

Benjamin Britten

„Near the Black Mountains there I dwelt” aus: "Curlew River"

Philip Langridge, Academy of St. Martin in the fields, Neville Marriner

Philips/Universal

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Es klingt wie ein junger Peter Schreier, aber das ist sicherlich eine neue Aufnahme. Gefällt mir sehr. Sehr unmittelbar. Peter Schreiers Schubert-Aufnahmen mit András Schiff wären übrigens meine Referenz-Aufnahmen für dieses Repertoire, viel mehr als die von Fischer- Dieskau. Ich mag den Klang dieser Stimme hier, der Sänger dient den Worten und der Musik, auch das Klavier war gut, da war ein echtes Team am Werk, nicht ein Star und sein Begleiter. ... Es ist eine Schande, dass das Liedrepertoire nicht bekannter ist. Nicht nur Schubert und Schumann, auch die Lieder von Brahms, Liszt und Beethoven – das ist so tolle Musik! Ich schätze mich glücklich, dass ich damit arbeiten darf. Auch die Qualität der Gedichte ist meist unglaublich hoch, und ich liebe es, tief in die Texte einzusteigen.

Robert Schumann

"Aus meinen Tränen sprießen“ und „Die Rose, die Lilie, die Taube“ aus: "Dichterliebe"

Daniel Behle, Sveinung Bjelland

Capriccio/Naxos

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Eines meiner Lieblingslieder! Das hat mir wirklich gefallen, es klingt, als würde er in einem kleinen Zimmer singen. Man bekommt den Text kristallklar mit. Dieses Portamento gibt dem ganzen so einen Chanson- Touch. Heute würde das sentimental klingen, aber dies hier zu hören, macht mich irgendwie fröhlich. Das ist ja auch eines von Schuberts wirklich fröhlichen Liedern. Es gibt viele Arten zu singen, die ich überhaupt nicht mag, aber bislang war noch nichts dabei.

Franz Schubert

„Im Frühling“, D 882

Peter Anders, Michael Raucheisen (ca. 1943)

Berlin Classics/Edel

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Was zum Teufel ist das? Händel? Das ist schön! Es klingt wie eine der großen Händel-Arien. Der „englische Tenor“ – das wird oft negativ benutzt. Und ich verstehe auch, warum. Das ist ein weißer Klang, nicht opernhaft, mit wenig Vibrato und Ausdruck. Aber andererseits: Man erkennt viele Details, und da wird es interessant. Ein opernhafter Klang ist nicht sehr natürlich. Fürs Opernhaus mag er passen, aber Schubert-Lieder waren nicht für große Säle gedacht. Mozart war nicht für die Met gedacht, nicht mal Wagner. Die Idee, dass man vor 4000 Leuten singt, ist etwas anderes als die Intimität, für die die meiste Musik geschrieben ist. Vor 200 Leuten kann man eine interessante Intimität schaffen, und das gelingt Ian wunderbar, finde ich. Er ist ein intelligenter Sänger – auch das ist für einige ein Schimpfwort.

William Boyce

„Softly rise, O southern breeze“, aus: "Solomon"

Ian Bostridge, The English Concert, Bernard Labadie

EMI Classics

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Das ist schnell ... Ich liebe diese Dringlichkeit. Ich finde es spannend, solch ein Stück neu zu entdecken – wenn ich merke, da hat sich jemand wirklich Gedanken gemacht und eigene Ideen entwickelt und führt das Stück auf, als wäre es neu geschrieben. Und das hier hat diese Qualitäten. Natürlich darf ein Sopran das singen, ohne Zweifel. Die Kraft der Musik muss spürbar werden, sie muss den Zuhörer elektrisieren. Und sie muss wie ein Teil unseres täglichen Lebens wirken. Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn jemand nur schöne Klänge produziert. Dann wird es ein Museumsstück, und dafür ist diese Musik zu großartig.

Franz Schubert

"Gute Nacht" aus "Winterreise"

Christine Schäfer, Eric Schneider

Onyx/Note 1

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Neu erschienen:

William Vaughan Williams, Jonathan Dove, Peter Warlock

On Wenlock Edge, The Ende, The Curlew

Mark Padmore, Nicholas Daniel, Huw Watkins, Britten Sinfonia, Jacqueline Shave

harmonia mundi

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Arnt Cobbers, 30.11.2013, RONDO Ausgabe 6 / 2013



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