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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Musik der Welt

Spaniens wilde Ecke

+ Keltisches aus Spaniens Nordwesten + Dudelsackmusik kommt nicht immer aus Schottland + Die Drehleier als Symbol politischer Opposition + Das Land der Träume + Der Jakobsweg macht Galicien populär + Der Griff nach den Sternen

Niemand würde Großbritannien auf schottische Dudelsackmusik reduzieren oder Deutschland auf bayerische Blaskapellen. Wenn aber von spanischer Musik die Rede ist, wird von Flamenco, Gitarren und Kastagnetten gesprochen. Dabei fügt sich ein Großteil iberischer Klänge nicht in das Klischee, stammen sie nun von den bläserlastigen katalanischen Sardana-Orchestern oder asturischen ›Pipe-and-Drum-Bands‹, den ›bandas‹, die jeder Hörer ohne mit der Wimper zu zucken in Schottland ansiedeln würde.
In der nordwestlichsten Ecke, nördlich von Portugal, durch hohe Gebirge vom Rest Spaniens getrennt, liegt des Landes grünes Tor zum atlantischen Ozean: Galicien. Erinnert schon die liebliche, doch viel Regen und Wind ausgesetzte Landschaft klimatisch und landschaftlich etwas an Irland oder die Bretagne, so finden sich entsprechende Parallelen auch in der galicischen Musik, in deren Instrumentarium seit dem Mittelalter Dudelsack, Harfe, Drehleier und Perkussionsinstrumente auffallen. Die Ähnlichkeiten werden auf die gemeinsamen keltischen Wurzeln zurückgeführt; sicherlich haben aber auch spätere Einflüsse und damit zusammenhängende Anbindung an eine boomende Celtic Folk-Szene die ursprüngliche galicische Musik nachhaltig zu einer größeren stilistischen Nähe zu Irland und Schottland verändert. Nord- und südeuropäische Elemente erscheinen in der Musik dieses Landstriches in heiterer Balance.
Das Revival der galicischen Musik in den 70er Jahren, am sichtbarsten durch die starke Besinnung auf die Dudelsack-Tradition und die Wiederbelebung der fast schon ausgestorbenen Drehleier, ging einher mit politischer Opposition. Der 1975 verstorbene Diktator Franco, wiewohl Galicier, hatte die Verwendung der dem Portugiesischen nahestehenden galicischen Sprache verbieten lassen, weil dies seiner Vorstellung eines zentralistischen Nationalstaates entgegenstand. Erst seit 1982 ist Galicisch wieder Amtssprache.
Das Recht auf eine eigene kulturelle Identität war also keine Selbstverständlichkeit, als Fuxan os Ventos 1972 ursprünglich als Schülerchor gegründet wurde. Die Gruppe, deren Name etwa soviel bedeutet wie »Lass die Winde vorüberziehen «, hatte maßgeblichen Anteil an der Emanzipation des Volkes. Bis Ende der 80er Jahre allgegenwärtig, war sie fast zwei Jahrzehnte praktisch von den Bühnen verschwunden, bis es 2008 mit zwei Konzerten in Santiago zu einem lange ersehnten Comeback kam, deren Zusammenschnitt beim Label Boa unter dem Titel »Terra de Soños« (Boa 10002038) auf einem Doppelalbum aus einer CD und einer DVD erschien. Obwohl die CD mit 20 Musiknummern schon lang ist, bereitet die aus 28 Stücken bestehende DVD den größeren Genuss, zumal es im vielfältigen Programm keine Spannungsbrüche gibt.
Die tiefen Emotionen aller Beteiligten (auch des Publikums) unterstreichen so auch optisch die Bedeutung des Ereignisses, das über das rein Musikalische hinausgeht. Das im Programmtitel angesprochene »Land der Träume« ist ja kein Märchenland, es ist ein gewissermaßen auch ersungenes Traumland, das von der Diktatur befreite Land. »Ein Volk, das singt, lebt« und »Ein Volk mit eigenen Liedern hat eine Zukunft« lauten die Botschaften der Musiker auch in den Interviews des beigefügten Making of-Videos. Leider gibt es keine Untertitel in einer gängigeren Sprache und auch das opulente 75-seitige Booklet scheint nur für Galicier gedacht zu sein.
Andererseits: Auch ohne Verständnis der Texte berührt das Konzert der insgesamt 27 Künstler, von denen neun das aus Gesangssolisten bestehende Vokalensemble bilden, die sich in immer wieder neuen Konstellationen mit zahlreichen Gaststars (Xabier Diaz, Uxía, Guadi Galego und Mercedes Peon) sowie einem abwechslungsreich eingesetzten Instrumentalapparat mit Streichquartett, Holzbläsern, Akkordeon und den genannten Nationalinstrumenten Dudelsack, Harfe, Perkussion und Drehleier zusammenfinden. Das zwischen galicischer Folklore und neuem Folk vermittelnde Repertoire – darunter Stücke wie »A Carolina« und »Sementeira«, die in ihrer Heimat längst schon zu Hymnen geworden sind – erklingt in (allein schon wegen des Klangcharakters der Instrumente oft pastoralen) Arrangements von Xosé Lois Romero, in denen ebenso für jazzige Ausflüge des Oboisten Platz ist wie für innigen Chorgesang oder Tanzeinlagen.

Dem Verhältnis von Mensch und Kosmos nachspüren

Galicien würde von uns Deutschen meist heute noch mit dem polnisch-ukrainischen Galizien verwechselt, wäre nicht der Jakobsweg zur Hauptstadt Santiago de Compostela in den letzten Jahren zum Synonym für Pilgerfahrt schlechthin geworden. 2010 hat sich die Zahl der Pilger gegenüber 2009 fast verdoppelt, gegenüber 1970 verviertausendfacht. Aus Anlass des Heiligen Compostelanischen Jahres 2010 veröffentlichte Boa unter dem Titel »Cantigas do Camiño« (Boa 10002042) auch eine thematisch auf den Jakobsweg zugeschnittene Anthologie, die die stilistische Spannweite heutigen galicischen Singens und Musizieren vor Augen führt. 13 der berühmtesten Formationen sind mit von der Partie, bieten Gregorianisches ebenso wie keltischen Folkrock, darunter Milladoiro, die heute noch aktive Pionierband der 70er Jahre, die Sängerin Uxia, diesmal im brasilianischen Stil, und das 40-köpfige, aus Harfen, Drehleiern, Dudelsäcken, Fiedeln, Flöten und Perkussion bestehende SonDeSeu, sozusagen das ins Gigantische erhobene Typische.
Immer wieder im Gesamtklang der siebenköpfigen Weltmusikformation Berrogüetto präsente traditionelle Instrumente wie Drehleier, Harfe, Gaita (Dudelsack), Geige oder Akkordeon erzeugen einen so ur-galicischen Sound, dass die im übrigen mit Keyboards, Schlagzeug und Saxofon bestückte Formation es sich erlauben kann, sich weit von ihren Wurzeln zu entfernen, ohne dass dies groß auffiele. Die östliche Bouzouki und die nordische Nyckelharpa, eine schon mal rockig gestrichene Bratsche fügen sich nahtlos ein. In ihrem auf Discmedi vorgelegten »Kosmogoniás « (Discmedi BM 002), wie die Vorgänger ein Konzeptalbum (allerdings mit Sänger Xabier Diaz an Stelle der früheren Frontfrau Guadi Galego) führt die Reise gar in die Höhen des Firmaments, wie die DVD mit ihren Experimentalfilmen zeigt. Wer davon nichts weiß und die Sprache nicht versteht, merkt es der durchaus bodenständigen Musik nicht an, dass hier (von philosophischen und wissenschaftlichen Betrachtungen angeregt) dem Verhältnis von Mensch und Kosmos nachgespürt und nach den Sternen gegriffen wird. In diesem Kosmos trüben nur selten Dissonanzen den satten Wohlklang; in eher ausgeglichener als ausgelassener Heiterkeit spinnen sich schwebende Melodien tänzelnd fort: die Harmonie der Sphären, aus galicischer Warte.

Marcus A. Woelfle, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2011



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