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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Klavierklassiker

Kulturanschlag auf die Anschlagskultur

Samson François (1924–1970) zählt zu jenen Pianisten, die man kaum wahrnahm hinter dem eisernen Vorhang, der im Grunde bis heute die französische und die deutsche Klavierwelt trennt. Dabei entzog sich sein phantastisch ungezügeltes und romantisches Temperament aller Einsortierung ins Klischee vom trocken-perfekten Fingerspieler Pariser Prägung. Auf 36 CDs dokumentiert diese vollständige Edition vor allem seine drei Repertoire- Pfeiler: Chopin, Debussy und Ravel, aber selbst Sammler- Mandarine, die alles zu kennen glauben, werden in dieser Box noch eine Fülle erstveröffentlichter Raritäten finden, man kann sie kaum aufzählen. Dieses Panorama zeigt eine musikalische Welt der flüchtigen Schönheit, der Mutwilligkeiten und Exzesse. Man wusste nie, in welche Richtung ihn seine wetterwendische Laune tragen würde, und so steht Überwältigendes neben ziemlich schludrig Hingespieltem. Welch ein Ausnahmepianist er war, hört man in seinem frühen, leider unvollendeten Ravel. Einen unbändigeren, dämonischer polternden »Scarbo« gab es kein zweites Mal, und auch die sich von glitzerndem Perlen zum unerbittlichen Martellato steigernde Toccata des »Tombeau« zeugt von einer selbst im Studio alles wagenden Kunst, die das Flüchtigste aber nur mit den Fingerspitzen berührte. Als Besitzer von Interpretationswahrheit sah er sich nie. Diese Sammlung ist auch ein Seismogramm tragischen Verfalls; seine Risikofreude, Spontaneität und Unbändigkeit waren auch Kräfte des frühen Untergangs. Alkohol und ein zügelloses Leben taten das Übrige. Der torkelnde, aufgedunsene »Scarbo« von 1967 ist dann nur noch ein trüber Schatten. Doch bis zum Ende stand ihm Schumanns gebrochene Welt seltsam offen. In drei hinreißenden Versionen der »Papillons« (zwei davon live) entfaltet François ein nächtlich-verrücktes Panorama, als erzähle er aus seiner eigenen trunkenen Welt. (EMI 6461062 – 36 CDs)

Paradox, dass gerade die EMI France einen ausgesprochen typischen Vertreter der deutschen Tradition aus der Vergessenheit erlöst: Hans Richter-Haaser. 13 Beethoven- Sonaten nahm er in den Abbey Road Studios auf – leider vollendete er den Zyklus nie. So wunderbar geerdet und bedächtig gestaltet er manche langsamen Sätze, spannt gelassen ihre melodischen Bögen (die Adagios aus op. 2/3 oder der »Sturmsonate«), dass man ihm kaum verübelt, wenn er uns dort, wo sich Beethoven spielerischem Esprit (op. 31/1) oder mystischer Entmaterialisierung (op. 111) zuwendet, an recht ausgetrocknete, neusachliche Ufer führt. (EMI 6483092 – 6 CDs)

Der Flut von Konzertmitschnitten Sviatoslav Richters begegnet man inzwischen mit einiger Skepsis. Viel zu oft lauerte ein verstecktes Mikro auf einen Pianisten, der sich gar nicht in Verewigungsform befand. Im Juni 1967 aber waren Meister, aber auch Flügel und Tontechnik in phänomenaler Verfassung. Der sich in schönste Richtersche Hysterie hineinsteigernden g-Moll-Ballade von Chopin folgt ein eisig-kontrollierter Debussy mit dem vollständigen Heft II der »Préludes«: Silberstiftzeichnungen zartester Eisblumen, wo andere ihr Pedal mit Farben tränkten. (Musical/Musikwelt MC 108)
Früher rümpften manche Kritiker bei György Cziffras Liszt ihre Nasen, als würden sie den Zirkus förmlich riechen. Natürlich – und zu unserem Glück! – spielte er sich in irrwitzige Rauschepisoden. Aber er war nie vulgär, und gerade in den Etüden begegnet man gelegentlich einer diese Raserei eigenartig brechenden Grazie. Nachdem wir nun über Jahrzehnte den Spätwerk- Visionär und Literatur-Adepten doch zur Genüge kennengelernt haben, kehrt man im Jubeljahr mit Vergnügen einmal wieder in eine wahrlich noble Manege zurück. (EMI 6483512 – 5 CDs)

Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2011



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