Wenn eine Sopranistin mit Anfang 40 klingt, wie sie frühestens in zehn, eigentlich erst in fünfzehn Jahren klingen dürfte, ist das bedenklich. Noch beunruhigender ist es, wenn sich eine Altersgenossin mit identischem Stimmbefund hinzugesellt. Das wirklich Alarmierende aber ist, dass diese beiden Damen keineswegs unrühmliche Ausnahmen bilden, sondern heutzutage den Normalzustand darstellen. Das Anhören von Arienprogrammen wird immer häufiger zu einem recht zweifelhaften Vergnügen, nicht selten muss man sich regelrecht durchkämpfen. Gibt es denn keine intelligenten Sänger mehr, die wissen, was sie ihrer Stimme wann und in welchem Umfang zumuten dürfen, um sie mehr als nur ein paar Jahre intakt zu halten? Oder ist es kein erstrebenswertes Ziel mehr, auch nach 30 oder gar 40 Karrierejahren noch Beachtliches auf der Bühne leisten zu können? Elisabeth Grümmer war 52, als sie 1963 die Elsa im bis heute maßgeblichen Kempe-«Lohengrin« sang. Doch braucht man nicht die ›gute alte Zeit‹ zu bemühen, auch ein Vierteljahrhundert später gab es mit Lucia Popp in ihrer letzten auf CD gebannten Rolle als Vitellia oder Mirella Frenis Tatjana ähnliche Fälle von stimmlicher Unversehrtheit jenseits der 50.
Juliane Banse (»Per amore«, Hänssler/Naxos 93262) ist gerade einmal 41 Jahre jung. Ihr Vibrato lässt sich am besten mit dem Begriff ausufernd beschreiben, in der Höhe nimmt die Stimme gelegentlich hysterische Züge an. Es stimmt traurig, was aus dieser früher so schönen Stimme geworden ist, in kurzen Passagen der Contessa-Arie schimmert noch ein Hauch davon durch. Ansonsten aber kann Banse ihren Sopran nicht mehr ruhig und entspannt genug führen, noch nicht einmal in ihrem ›eigentlichen‹ Repertoire. »O mio babbino caro« beispielsweise klingt genauso aufgedonnert und unerfreulich wie in seiner üblichen Funktion als Zugabe nicht mehr ganz jugendfrischer Diven.
Ähnlich sieht die Diagnose für Camilla Nylund aus. Auch sie zeigt in ihrem Wagner- und Strauss- Programm »Transfiguration« (Ondine/Naxos ODE11682) ein zu großes Vibrato, das für Elsas Erzählung oder Elisabeths Gebet wenig geeignet ist. Die Hallenarie passt da deutlich besser, auch in der tiefer liegenden Sieglinde- Szene fließt die Stimme gleichmäßiger, bei Isoldes Liebestod hingegen schaukelt es ordentlich. Einen insgesamt positiveren Eindruck hinterlässt der Strauss-Teil: Daphne mit ihrer hohen Tessitura ist sicherlich nicht ideal (auch wenn Spitzentöne generell kein Problem für Nylund darstellen), aber Arabella und vor allem Ariadne sind eindeutig ›ihre‹ Partien.
Mit französischen Opernarien des 19. Jahrhunderts präsentiert sich die Altistin Marie-Nicole Lemieux auf »Ne me refuse pas« (naïve/Indigo 955282). Die Stärken der von mir im Barockrepertoire hochgeschätzten Sängerin kommen in diesem romantischen Programm nicht optimal zur Geltung, auch taugt die Stimme trotz ihrer Üppigkeit nicht unbedingt für dramatischere Rollen. Den besten Eindruck macht sie mit den ruhigeren Arien aus »Médée«, »Roméo et Juliette« oder »Mignon«. Auch die Dalila gelingt sehr gut, ihre Charlotte allerdings wird zu sehr zelebriert, zerfließt förmlich.
Natalie Dessay versucht seit geraumer Zeit, nicht nur als Zirzensikerin wahrgenommen zu werden, doch auch auf ihrer neuesten CD »Cleopatra« (Virgin/EMI 9078722) mit den Arien eben dieser Dame aus Händels »Giulio Cesare« sorgt sie gerade mit den hochvirtuosen Nummern wie »Da tempeste« für Aufmerksamkeit. Und so wird sie wohl weiterhin die Hochseilartistin geben müssen, denn zum einen ist Dessay nicht die farbenreichste und imaginativste Sängerin, zum anderen ist die Stimme für das rein Lyrische weder rund und weich noch charmant genug, der Ansatz nicht mehr leicht genug.
Michael Blümke, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2011
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