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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Stephen Wright

Der Schallplattenjäger

Klar: Die Zahl historischer Aufnahmen wächst jeden Tag. Stephen Wright sucht Tondokumente und entreißt sie dem Vergessen.

Freilich sind nicht alle Aufnahmen von bleibendem Wert: Was 1960 oder 1980 modern und aufregend war, kann im Jahre 2013 überholt und langweilig klingen. Oder aber noch faszinierender, noch mitreißender als zu seiner Entstehungszeit. Ein großer Interpret vergangener Tage, vielleicht schon lang gestorben, hat dann eine nachschöpferische Leistung vollbracht, die als Interpretation in ähnlicher Weise Geschichte geschrieben hat wie das dargebotene Werk. Dann ist es wünschenswert, dass sich ein Mann wie Stephen Wright, gleichzeitig Liebhaber und Profi, eines solchen Tondokuments annimmt.
Der 66-jährige Engländer ist in Sachen klassisches Musikbusiness mit allen Wassern gewaschen: Nach seiner Ausbildung in Cambridge widmete er sich dem Künstler-Management. Bald stieg er bei der renommierten Agentur Harold Holt Ltd. (heute Askonas Holt) ein, wurde dort Managing Director. 1991 wechselte er zu IMG, deren europäische Sektion er aufbaute. Mit ICA – „International Classic Artists“ – hat er heute eine eigene Agentur, die u. a. Yuri Bashmet, Kent Nagano oder das Borodin Quartet betreut.
Aber ICA betätigt sich nicht nur im Management. Gleichzeitig ediert Stephen Wright auch Tonträger mit historischen Aufnahmen, etwa 20 CDs und 20 DVDs pro Jahr. Erfahrungen dafür sammelte er unter anderem als Schöpfer der Reihe „BBC Legends“, die er nun schon vor längerer Zeit wieder aus der Hand gegeben hat.
Das Label ICA Classics hat ein besonderes Profil, durch das es sich von anderen Labels, die historisches Material verwerten, bewusst absetzt: Selbstverständlich, das betont Wright im Gespräch besonders, gibt er niemals Raubmitschnitte oder sonstige illegal erworbene Dokumente heraus. Auch mit Aufnahmen der Major-Labels, deren Rechte abgelaufen sind, beschäftigt er sich nicht – für viele andere Historic-Labels ein Hauptbestandteil ihrer Tätigkeit. Stephen Wright nimmt ausschließlich bisher unveröffentlichte Konzertmitschnitte in sein Programm auf, die ausnahmslos direkt von den Master Tapes abgenommen sind. Er kooperiert zu diesem Zweck vor allemmit der BBC, aber auch mit dem WDR und dem SWR, ferner mit einzelnen Klangkörpern wie dem Boston Symphony Orchestra.
Nur Live-Mitschnitte außergewöhnlicher Konzertereignisse: Hier wird Klassik-Liebhabern tatsächlich Einzigartiges ins Wohnzimmer gebracht. Unter den jüngeren DVD-Mitschnitten: ein großartiger Sacre du printemps, gespielt vom LSO 1966 in Croydon. Es dirigiert – auswendig – ein ungeheuer souveräner Leonard Bernstein, der das Stück in seinem Dirigat wirklich zu leben scheint, zugleich aber die vollständige Kontrolle über das komplexe Geschehen behält. Oder, auf CD, Rachmaninows zweite Sinfonie e-Moll mit dem Philharmonia Orchestra unter Evgeny Svetlanov – erst 1993 in der Londoner Royal Festival Hall mitgeschnitten und dennoch schon jetzt ein Klassiker in puncto klangliche Reizfülle und konzentrierte Durchdringung der Partitur. Oder, wiederum auf DVD, eine höchst fesselnde Version von Brahms’ „Erster“, mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Leitung des (ebenfalls ohne Partitur dirigierenden) stählern-energischen Georg Solti, eine Aufnahme vom Edinburgh International Festival 1971.
Stephen Wrights ICA-Tonträger haben eine magische Anziehungskraft, mit der sie das Publikum daheim im Nacherleben an vergangenen Jahrzehnten teilhaben lassen können – Jahrzehnte, in denen freilich nicht einfach alles besser war. Aber was Wright auswählt und präsentiert, ist ohne Zweifel besser als so Manches, was wir heute konzertant dargeboten oder auf den Plattenteller serviert bekommen.

Ludwig van Beethoven, Maurice Ravel, Frédéric Chopin

Klaviersonate op. 2/3, Valses, Nocturnes

Arthur Rubinstein

Naxos/ICA

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Michael Wersin, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2013



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