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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Musik der Welt

Timbuktu – Dakar – Kinshasa

+ Alle Jahre wieder: das »Festival au désert« + In Timbuktu mischen sich musikalische Traditionen von vier Bevölkerungsgruppen + Kubanische Musik aus dem Senegal + Kongolesische Rumba – eines der erfolgreichsten Exportgüter des Landes +

Die Stadt Timbuktu galt lange Zeit als so entlegen unerreichbar, dass ihr legendärer Name zu einem Synonym für einen märchenhaften Ort wurde, den es vielleicht gar nicht gibt: Wenn im Disney-Film »Aristocats« der böse Butler in einen Koffer mit der Aufschrift Timbuktu gesperrt wird, dann wissen wir, dass wir ihn nie wiedersehen werden. Im Mittelalter war das durch Gold- und Salzhandel reich gewordene Timbuktu eines der ältesten Kulturzentren der islamischen Welt. In der Karawanenstadt wurde im 14. Jahrhundert sogar eine der ersten Universitäten der Welt gegründet. Trotz seines weit über die Grenzen Afrikas reichenden Ruhms ist die ehemalige Königsstadt des Malischen Großreiches mit den charakteristischen Lehmbauten und ihren etwa 50.000 Einwohnern relativ klein geblieben. Im Zusammenhang mit Musik denkt man bei Timbuktu vielleicht zunächst einmal an das jährliche »Festival au désert«.
Doch tagein tagaus erklingt in der Oasenstadt am Südrand der Sahara Musik, wobei sich die Traditionen von vier Bevölkerungsgruppen vermischen, die anderswo in Mali eher unter sich bleiben: Es sind die als viehtreibende Nomaden lebenden Mauren (sowohl berberischer als auch schwarzer Herkunft), die als Bauern und Handwerker tätigen Songhai, die einst als Kriegervolk berühmten Tuareg (die Oberschicht), und die Bellah, einst ihre unfreien Untergebenen. Diese von den Bürgern der Stadt und des gleichnamigen Kreises selbst gemachte Musik lernt man in faszinierenden Feldforschungsaufnahmen des Jahres 1996 kennen, die kürzlich unter dem schlichten Titel »Mali Timbuktu« (benkadi fòli serie I. Vol. 5, www.benkadi.org) erschienen sind und vom Preis der deutschen Schallplattenkritik zu Recht auf die Bestenliste gesetzt wurden.
Von der Musik zu religiösen Festen oder zur Feldarbeit bis hin zur instrumental begleiteten Märchenrezitation, vom Säbeltanz zum Spottlied reichen die vielfältigen, unverfälschten Dokumente der Musik, bei der, auch dies eine Spezialität der Region, sehr oft Frauen die Instrumentalistinnen sind. Unter den Instrumenten ragen, neben der Perkussion vor allem Lauten, eine einsaitige Streichlaute und das Lamellophon Bigini hervor, dem exorzistische Fähigkeiten zugeschrieben werden. Es fällt auf, dass die Instrumente, die man mit Mali zunächst in Verbindung bringt, Kora und Balafon, fehlen.
Etwa eineinhalbtausend Kilometer westlich von Timbuktu, ja, am westlichsten Zipfel des afrikanischen Festlandes überhaupt, liegt Senegals Hauptstadt Dakar. Wären wir dort vor einem halben Jahrhundert tanzen gegangen, hätten wir erstaunt festgestellt, dass ›alles‹ lateinamerikanisch, präziser gesagt, afrokubanisch klingt. Dakar ist und war damals schon eine der bedeutendsten Hafenstädte. Ausländische Musiker gingen ein und aus, Matrosen brachten Platten mit Guajiras und Boleros, einheimische Musiker begannen die einst von Sklaven aus Westafrika entwickelten Rhythmen nachzuspielen und auf Spanisch »El guaganco« und »Guantanamera« zu singen, selbst wenn sie die Sprache nicht verstanden. Die auf zwei CDs angelegte Anthologie »Afro Latin, Via Dakar« (Discograph/Alive 3237562) widmet sich der dort gepflegten kubanischen Musik, die im Senegal schon in den 40er Jahren großen Einfluss erlangte und bald durch Bands wie die Star Band de Dakar oder die Super International Band bis Mitte der 70er Jahre eine beherrschende Stellung einnahm. »Ist lateinamerikanische Musik für uns afrikanische Musiker wirklich ein fremdes Konzept?« fragt Amara Touré, einer der auf der Anthologie zu hörenden Künstler rhetorisch und beantwortet: »Ich denke nicht. Hört die Perkussion, den Rhythmus der Trommeln. Das steht uns sehr nahe. Wir fühlen, dass es Teil unserer Kultur ist.«
Wer die zwei CDs hört und dazu das Booklet liest, bekommt ein Gefühl dafür, wie völkerverbindend das kubanische Idiom war. Die Aufnahmen entstanden oft in der Elfenbeinküste, die Musiker stammen nur teilweise aus dem Senegal, andere wie z. B. Touré aus Guinea, während von den kapverdischen Inseln Gitarristen stammen, die mit ihrem oft leicht halligen Sound (ebenso wie Saxophonisten) ein typischer und wichtiger Bestandteil afrikanischer Latin Bands sind. Ansonsten kommen alle in Kuba verbreiteten Instrumente vor, einheimische Instrumente wie Kora und Balafon sucht man freilich wieder vergebens. Der Begleittext ist informativ, aber darüber hinaus wären genauso diskographische Daten mit Aufnahmedaten und genaueren Besetzungsangaben sowie eine chronologische Anordnung wünschenswert gewesen, die die Entwicklung vom Nachspielen zur ›Reafrikanisierung‹ besser nachvollziehbar macht. Diese Anthologie ist übrigens Bestandteil einer großangelegten Serie, die der Verbreitung lateinamerikanischer Musik über die großen afrikanischen Ein- und Ausfallstraßen nachgeht. Neben »Via Dakar« liegt bereits »Afro Latin, Via Kinshasa« (Discograph/Alive 3237582) vor. Dort, über 4.000 Kilometer südöstlich, ergibt sich – trotz des Unterschieds zwischen den traditionellen Musikformen Senegals und Kongos – ein verblüffend ähnliches Hörbild. Auch in jener ehemaligen belgischen Kolonie, die als unabhängiger Staat dann lange Zaire hieß, war das afrokubanische Element ein wichtiger Motor zur Herausbildung moderner afrikanischer Musikstile. Kongolesische Rumba, hier von unvergesgibt sich – trotz des Unterschieds zwischen den traditionellen Musikformen Senegals und Kongos – ein verblüffend ähnliches Hörbild. Auch in jener ehemaligen belgischen Kolonie, die als unabhängiger Staat dann lange Zaire hieß, war das afrokubanische Element ein wichtiger Motor zur Herausbildung moderner afrikanischer Musikstile. Kongolesische Rumba, hier von unvergessenen Bands aus Léopoldville (heute Kinshasa) dargeboten, darunter Le Grand Kalle und OK Jazz, war für lange Zeit sogar einer der erfolgreichsten und einflussreichsten Musikstile des ganzen schwarzen Kontinents. Auf vielen der hier zusammengetragenen Latin-Aufnahmen erhat wieder die Gitarre eine Schlüsselrolle, übernimmt sie doch die Montuno-Funktion, die in der kubanischen Musik das Klavier innehat, aber in einer Spielweise, die Erinnerungen an das Daumenklavier wachruft. So klang ausrechnet das aus Belgien importierte elektrische Instrument in den Händen von Gitarristen wie Franco oder Docteur Nico besonders afrikanisch, ja, panafrikanisch. Mit Kuba als Patin überwand die Musik Kongos nicht nur Sprachbarrieren, sondern alle Grenzen, die von Glaubensbekenntnissen, Stammes- und Standeszugehörigkeiten und nationalen Grenzen festgezogen schienen.

Marcus A. Woelfle, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2011



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