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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Kornemanns Klavierklassiker

Kulturanschlag auf die Anschlagskultur

Verweht ist der flüchtige Jubiläumspomp des Chopinjahres – Zeit, etwas wirklich Kostbares, Verkanntes zu entdecken! Nikita Magaloff nahm in den Siebzigerjahren die erste vollständige Werkschau auf – und erntete Kritikerhäme („dry old bird« schrieb Grammophone). Sprach da nicht fehlgeleitete Erwartung? Der Pianist aus emigriertem georgischem Fürstengeschlecht war nämlich ein prototypisches Geschöpf des Conservatoire de Paris, Schüler des legendären Isidor Philipp und damit »Urenkel« Chopins, und bot statt slawischer Emotionalität eine kristalline Klarheit und Transparenz, die einsam dasteht. Nur Pianisten werden die grafische Eleganz seiner Etüden ganz zu würdigen wissen. Mit distanzierter Genauigkeit – Apotheose handwerklicher Vollendung – erschafft Magaloff einen durchlichteten Chopin-Kosmos, der uns seine polyphonen Strukturen noch an den entlegensten Orten erkennen lässt. Manches, etwa der Trauermarsch-Mittelteil oder das Largo der h-Moll-Sonate mag ausdrucksminimalistisch, ja statisch wirken; wir müssen unsere vom Vulgären umspülten Ohren erst darauf einstellen, die intellektuelle Geschliffenheit seiner emotionalen Rücknahme zu erahnen. Es kann läuternde Wirkung haben. Newton/ Codaex NC 8802076 (13 CDs)

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Alexis Weissenberg löscht in seinem Chopinrecital (1972, live) diese warme, erfüllte Mitte förmlich aus. Aus einer fahlen Pianissimosphäre stürzt er unvermittelt in perkussive Raserei, die kein Maß mehr kennt. Die Schlussapotheose der Polonaise-Fantasie schlägt in puren Irrwitz um, auch der Kopfsatz der h-Moll-Sonate wirkt geradezu zerfetzt. Man kann zweifeln, ob diese Überspannung noch Teil der Chopinschen Gefühls- und Ideenwelt ist, aber es ist durchaus spektakulär zu hören, wie er über ihre Grenzen hinausgeht. Hänssler/Naxos 93710

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Dass man Richters Riesenbildnis immer noch Facetten hinzufügen kann, ohne dass es uns langweilte, belegt eine Folge von Mitschnitten des Konzertsolisten aus den Jahren 1958–83. Seine Zusammenarbeit mit Dirigenten war meist schwierig, die Ergebnisse blieben oft weit hinter seiner Vision zurück. Das erste Tschaikowskikonzert mit Kyrill Kondraschin (1968) markiert den überragenden Gipfel dieser lohnenden Box. Wollte Karajan Richter sein Bild des Werkes aufzwingen – es endete desaströs –, lässt Kondraschin ihn frei, gibt seinem expressiven Überdruck Raum, um den Entfesselten immer wieder gelassen aufzufangen. Uns bleibt das Bild des rastlos Suchenden im Sinn, der auch mit solchen Schlachtrössern nie »fertig« wurde. Brilliant 9199 (10 CDs)

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1994, ein Jahr vor seinem Tod, verstörte Richter das Schwetzinger Publikum mit einem verzweifelt kargen Ravel und führte die ganze Kälte jener Spielautomaten-Mechanik vor, die die Figuren der »Valses nobles« oder die Stimmen trauriger Vögel in den »Miroirs« in Gang setzt. Mit erschreckend eisiger Größe schlugen die Wellen über seine »Barque sur l’océan«. Die herbe Ungefälligkeit dieses Dokuments offenbart die ganze Richtersche Altersbitternis. Und doch entdeckte er eine Ravel-Wahrheit, die den meisten anderen Spielern wohl unbehaglich wäre. Hänssler/Naxos 93712

Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 4 / 2011



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