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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Fanfare

Eben begeisterte Yannick Nézet-Séguin auf den sieben Stationen der größten deutschen Orchestertournee, die das Rotterdamer Philharmonische Orchester je absolviert hat.Er könnte sich also entspannt zurücklehnen, hätte er nicht so einen engen Terminplan, der ihn von Kontinent zu Kontinent und gegenwärtig von einem Debüt zum nächsten hetzt: »Jetzt wird gesät, dann lasse ich mich nieder, später ernte ich«, sagt er vergnügt. Der 36-jährige Kanadier mit bretonischen Wurzeln ist einer der gefragtesten Dirigenten weltweit – und das nicht nur in der Kategorie unter vierzig. Seit elf Jahren ist er schon Chef des Orchestre Metropolitain in Montréal. Doch ausgerechnet die zwei Orchester, noch dazu sehr bedeutende, bei denen er sich seit 2008 bzw. ab 2012 verpflichtet hat, stehen gegenwärtig etwas schief da: In Rotterdam werden von der niederländischen Regierung gerade bis zu 60 Prozent der Budgets gekürzt, und in Philadelphia, wo man sich verkalkuliert hat und es zudem der Wirtschaft nicht gut geht, musste man als einer der fünf berühmtesten US-Klangkörper Konkurs anmelden. Das schmerzt. Doch für einen energetischen Klangkünstler wie Nézet-Séguin erst Recht ein Grund, die Ärmel nicht nur symbolisch hochzukrempeln. »Was in den Niederlanden passiert, ist ein Sakrileg«, schimpft der Chef des Rotterdam. »Wir werden dagegen arbeiten. Unsere Position ist stark. Wir werden hauptsächlich von der Stadt finanziert. Und deren Hafen ist im Aufwind, da ist also auch Sponsorengeld da. Wir sind jedenfalls seit etwa zwei Jahren auf der Überholspur, machen wieder CDs und touren viel.« Yannick Nézet-Séguin wettert und probt weiter, er weiß, Qualität ist sein stärkstes Statement.
Stippvisite im Bolschoi Theater. Der Moskauer Musentempel war sechs Jahre geschlossen. Zentimeterbreite Risse zogen sich durchs Mauerwerk, unter dem ein Fluss verläuft und das meist nur gestrichen, nie grundlegend saniert wurde. 300 Millionen Dollar sollen offiziell in die nicht fertig werdende Renovierung geflossen sein. Die Kompanie von 2000 Mitarbeitern spielte in der Zwischenzeit in einer eigens erbauten Ersatzbühne, die sie behalten wird. Erst Präsident Medwedew sprach ein Machtwort. Dafür soll es jetzt mit allen Schmiergeldern über eine Milliarde Dollar gekostet haben. Innen glüht wieder alles golden und crémefarben. Auf dem Vorhang sind nicht mehr Hammer und Sichel eingestickt, sondern der Heilige Georg. Zaristische Pracht für ein Russland, das nicht weiß, wo es hintreibt. Was alt war, sieht jetzt nagelneu aus. Zur TV-Gala sangen der unvermeidliche Plácido Domingo und Natalie Dessay. Dann folgte Glinkas »Ruslan und Ludmila«, doch Regisseur Dmitri Tschernjakov musste sein Konzept erst der Präsidentengattin vorlegen. Nur drei Premieren pro Spielzeit sind geplant, immerhin auch die Russland-Premiere (!) des »Rosenkavalier«. Doch ob man jemals wieder mit dem Petersburger Marientheater, Valery Gergievs auf voller Fahrt stampfendem Operntanker, gleichziehen wird?
Man kann Daniel Barenboim viel vorwerfen. Zum Beispiel auch, dass er als Pianist wie Dirigent auf jeden Jubiläumszug aufspringt und das clever vermarktet. Aber wenn dabei zwei so großartige Interpretationen wie die der »Dante«- und der »Faust«-Sinfonie von Franz Liszt herauskommen, warum nicht? In der Berliner Philharmonie glühte die Staatskapelle dunkel, spielte aber ganz zart durchsichtig, wenn nicht Liszt sein Toninferno entfesselt. Sogar Jonas Kaufmann hatte sich für das »Faust«-Ende zum Ewig Weiblichen hinan ziehen lassen und steuerte noch das mit vielen in fieser Passagio-Lage angesiedelten »Oh Gott«, Akklamationen versehene Tenorsolo in der Vertonung des 113. Psalms bei. Da waren wirklich Überzeugungstäter am Werk, die sich für Liszts geniale Maßlosigkeiten begeisterten. Die vielleicht schönsten, sicher hochkarätigsten Geburtstagskonzerte also. Hoffentlich bald auf CD. Wir bleiben in Berlin. Da führte der Planungszufall, keineswegs die souveräne Stückabstimmung der Opernstiftung, zu einem Leoš -Janácˇek- Doppelwhopper. An der Staatsoper spielte man Patrice Chéreaus schon seit sechs Jahren durch die Theater tingelnde »Totenhaus«-Deutung, altmeisterlich detailreich ausgepinselt, aber ohne tieferen Sinn. Dafür durfte sich Simon Rattle endlich einmal als gestalterisch wie handwerklich souveräner Operndirigent präsentieren. Sonst ist er ja gern zu laut, diesmal waren alle ergriffen. Und hatten tags zuvor Spaß gehabt im »Schlauen Füchslein« an der Komischen Oper. Dort eine Repertoire-Ikone seit der legendären Felsenstein-Inszenierung, gelang doch Andreas Homoki, dem Ende der Spielzeit nach Zürich weiterwandernden Intendanten, eine ernsthaft tierische und doch menschlich herzergreifende Produktion. Die erinnerte an frühere, bessere Regiezeiten.

Roland Mackes, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 6 / 2011



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