Es ist jedes Jahr immer wieder diese unübersehbare Unsitte. Kaum hat man die Sonnenmilch fest für das nächste Jahr verschraubt, steht man im Einzelhandel bereits vor Bergen aus Christstollen, Zimtsternen und Mandel-Spekulatius. Wenigstens nimmt man dann wohlwollend zur Kenntnis, dass es angesichts von 20 Grad Außentemperatur noch nicht aus den Boxen schallt: »Leise rieselt der Schnee!« Denn nicht nur klimatisch wird man damit schneller Bekanntschaft machen, als einem lieb ist. Je näher der Heilige Abend rückt, umso höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass man dieses alte, deutsche Weihnachtslied selbst in einer Fassung für Panflötenchor gehört hat. Da lobt man sich doch diesen stimmungsvollen Weihnachtsgruß eher aus glockenreinen Kehlen, wie sie etwa der Dresdner Kreuzchor oder der Windsbacher Knabenchor zu bieten haben. Erstaunlicherweise taucht gerade »Leise rieselt der Schnee« aber diesmal nicht auf den aktuellen CDs der beiden Chöre auf – sondern nur beim Organisten Kay Johannsen. In bester französischer Orgeltradition, bei der man schon immer gerne über Weihnachtsmelodien improvisierte, hat sich Johannsen für sein Album »Christmas « insgesamt 24 internationale Lieder herausgepickt, um sie in einem stimmungsvoll neuen Licht erklingen zu lassen. »Leise rieselt der Schnee« wird da mit magisch leichten Tonflocken pulverisiert. »We whish you a Merry Christmas« kommt arabesk schwungvoll daher. Und sonniges Latin-Gemüt besitzt gar das venezuelanische »Corramos, corramos«. Quer durch Europa über Russland bis in die Neue Welt ist Johannsen da an seiner Mühleisen-Orgel der Stiftskirche Stuttgart gereist, um bekanntes und vollkommen unbekanntes Repertoire mit viel Phantasie und Gefühl leichthändig zu umspielen.
Ähnlich global angelegt sind auch die Aufnahmen von Paul Hillier sowie vom Quintett amarcord. Mit den Sängern seines Theatre of Voices und dem Chor Ars Nova Copenhagen erzählt Hillier die Weihnachtsgeschichte anhand von Liedern und Chorälen aus Italien, Deutschland, Fast alle Wege führen nach Bethlehem Dänemark, England und den USA . Mit diesen bis ins 16. Jahrhundert zurückgehenden Quellen und Stücken, etwa vom elisabethanischen Komponisten William Byrd, knüpft man aber nicht nur an eine Tradition an, wie sie in englischen Gottesdiensten bis heute gepflegt wird. Die musikalische Erzählung von Jesu’ Geburt verwandelt sich dank der stimmlichen Balance aus Innigkeit und engelsgleichen Soli zu einem wahren Ohrenschmaus. Mitten im 21. Jahrhundert befindet man sich dagegen bei den A-Cappella-Sängern des Ensemble amarcord. Denn das mit »Coming Home For Christmas« betitelte Album besitzt bisweilen genau diesen Swing, bei dem die von Gans und Zuckergebäck erschlafften Gemüter auf Anhieb wieder hellwach werden. In bester Comedian Harmonists- Nachfolge feiert man an anderer Stelle im amerikanischen Song »Winter Wonderland« das gute, alte Schubidubi. Und was für Stationen haben sich diese fünf wandlungsfähigen Hoch- und Tieftöner nicht alles für ihr facettenreiches und damit buntes Programm ausgesucht. Da schmeichelt man dem Herz mit einem schlichten, schwedischen »Jule«-Volkslied. Einen nigerianischen Stammesgesang stimmt »Bethlehem« an, dafür zieht es den Hörer mitten in die Tiroler Berge mit ihren Echos für die »Stille Nacht«. Und die alpine Kleidung konnte man schließlich gegen eine Badehose eintauschen – beim »Parang Christmas Chutney«-Song, bei dem man sich unüberhörbar an einen der karibischen Stände Trinidads versetzt fühlt.
Wem das alles schon zu ausgefallen ist, dem geht das traditionsbewusste Herz gleich bei zwei Einspielungen auf. Mit »Nun sei willkommen, Herre Christ« ist die Aufnahme des Windsbacher Knabenchors unter Leitung Karl-Fiedrich Beringers überschrieben. Zusammen mit Orgel und Trompete wechseln sich Motetten von Max Reger mit Weihnachtsliedern wie »Es ist ein Ros’ entsprungen« und »Stille Nacht« ab. Und für barockes Instrumental-Lametta sorgen Stücke von Telemann und Purcell.
In bester historischer Aufführungspraxis beweist aber auch Hille Perl, dass ihr Herz für schöne, klare und vor allem für altvertraute Melodien schlägt. Ob es nun »Es ist ein Ros’ entsprungen« ist oder »Vom Himmel hoch, da komm ich her«. Solche und weitere Werke aus der protestantischen Kirchenmusiktradition hat Perl für ihr Album »Verleih uns Frieden gnädiglich« zusammengestellt An ihrer Seite: der treue Lautenist Lee Santana, das Gambenensemble Sirius Viols sowie die schwedische Sopranistin Anna Maria Friman. Das Perl-Team streut zudem musikalische Friedensbitten von Heinrich Schütz ein, um dem »akustischen Jingle-Bells-Terrorismus der Einkaufsstraßen « (Hille Perl im Booklet) Gehaltvolles entgegenzusetzen. Von dem Schütz-Schüler Johann Schelle (1648-1701) sind zwei Streicher-Sonaten aus seiner musikalischen Weihnachtsgeschichte »Actus Musicus auf Weyhnachten« zu hören. Beseelte Intimität – berückend schön!
Zeitloser ist die CD »Kreuzchorvespern – Geistliche Musik in der Zeit der Trauer und Zuversicht« des Dresdner Kreuzchors gehalten. Aber der musikalische Bogen, den man von der Renaissance (Hassler) über Barock (Schein, Schütz) und die Romantik (Spohr, Mendelssohn) bis zur Moderne (Hans Huyssen) spannt, bietet auf höchstem Niveau gesungene Motetten- und Choralkunst – und diese hat einfach ihren Platz zu Weihnachten.
Weihnachten ganz ohne Bach – das geht natürlich auch 2011 nicht. Selbst wenn es sich dabei zunächst um Johann Christoph Friedrich Bach handelt. Der zweitjüngste Sohn des Großmeisters vertonte 1773 die Herder-Dichtung »Die Kindheit Jesu« zum gleichnamigen Oratorium. Die jetzt wiederveröffentlichte, von Hermann Max geleitete Einspielung mit der Rheinischen Kantorei sowie dem Ensemble »Das kleine Konzert« ist eine wahre Perle, was allein die kontemplativen Arien angeht (besonders edel: Sopranistin Barbara Schlick). Und obwohl mitten im Zeitalter des Sturm und Drang komponiert, meint man hier und da immer wieder mal den Geist des Vaters des Bückeburger Bachs zu vernehmen. Vorwerfen dürfte man das dem Junior aber wahrlich nicht. Schließlich war Johann Sebastian Bach auch nicht gerade zurückhaltend, wenn es um die geschickte Zweitverwertung bereits komponierten Materials geht. Und da ist sein »Weihnachtsoratorium« das wohl schlagkräftigste Beispiel. Wie fleißig Bach sein Parodieverfahren eingesetzt hat, wird nun in einer 4 CD-Box auch erläutert. Neben der schlanken und doch expressionsgeladenen Gesamteinspielung mit der Akademie für Alte Musik Berlin sowie dem Chor des Bayerischen Rundfunks gibt es nämlich eine ungemein hörenswerte Einführung in das Werk von Wieland Schmid. Sprecher sind u. a. die renommierten Schauspieler Christian Brückner und Udo Wachtveitl. Die Aufnahme des »Weihnachtsoratoriums« aus dem Münchner Herkulessaal gibt es außerdem noch als DVD.
Mit einer »Sinfonia« aus Bachs Weihnachtsschlager hat auch Concerto Köln sein »Christmas Album« bestückt. Umrahmt von instrumentalen Weihnachtsliedern des französischen Barock-Monsieurs Marc- Antoine Charpentier sowie von den unverwüstlichen X-Mas-Concerti von Corelli, Vivaldi und Torelli. Aber wie man es von den mustergültig aufspielenden und neugierigen Musikern gewohnt ist, hat man auch noch so manche Trouvaille zu bieten. Wie eine »Sonata natalis« des Böhmen Pavel Josef Vejvanovský oder eine schnittige »Sinfonia pastorale « von Johann Stamitz. Und das Beste ist – gerade dieser kleine musikalische Diamant aus der Schatulle der »Mannheimer Schule« funkelt nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern das ganze Jahr.
Capriccio/Naxos
BR-Klassik/Naxos
Raumklang/harmonia mundi
Berlin Classics/Edel
Berlin Classics/Edel
harmonia mundi
Carus/Note 1
DHM/Sony
Sony
Guido Fischer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 6 / 2011
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