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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Günter Pichler

Institut für Streitkultur

Am ersten Pult des Alban Berg Quartetts wurde Günter Pichler in den Konzertsälen der Welt gefeiert. Seit der Auflösung des ABQ vor drei Jahren unterrichtet er an der renommierten spanischen »Escuela Superior de Música Reina Sofía« junge Streichquartette auf dem Weg an die Spitze, diszipliniert und detailgenau. Als Orchesterdirigent versucht er, die Musiker zu begeistern, übt sich im Loslassen und genießt das aktive Musizieren. Carsten Hinrichs hat ihn in Madrid besucht, in der Kaderschmiede der Kammermusikelite von Morgen.

RONDO: Herr Pichler, wann wird für Sie aus Musizieren Musik?

Günter Pichler: Aus dem miteinander Musizieren sollte ja Musik entstehen. Voraussetzung dafür ist natürlich instrumentales Können, Gleichgewicht von Persönlichkeit, Emotion, Verständnis für den Komponisten, Werktreue, Stil.

RONDO: Um die Details der Interpretation geht es auch in Ihrer Arbeit mit jungen Streichquartetten als Professor hier an der Escuela Superior de Música. Welche Hausaufgaben muss ein Quartett leisten für den Aufbau von Ensembleklang und künstlerischem Profil?

Pichler: Am Beginn steht das individuelle Erarbeiten des Werkes. Vor der ersten Probe bereits sollte das Stück technisch gut funktionieren, jeder Spieler sollte die Partitur kennen und verstehen. In der ersten Probe sollten dann der Grundcharakter und damit auch die Tempi der Sätze skizziert werden. Darüber wird wohl diskutiert werden müssen, denn ein Quartett ist eine demokratische Einrichtung. Je mehr Erfahrung und gemeinsames Stilgefühl ein Ensemble hat, desto schneller geht dieser Prozess vor sich. Und da wir schnell lernen müssen um ein großes Repertoire aufzubauen, sollte möglichst viel gespielt und wenig diskutiert werden. Hilfreich für junge Quartette ist es sicher, besonders wenn sie nicht in Metropolen leben und regelmäßig erstklassige Konzerte hören können, sich eine breite Palette von Interpretationen auf CD kritisch anzuhören. Die Jungen sollten keine Angst davor haben, dass dies ihre persönliche Interpretation beeinträchtigt. Auch wenn alle diese Voraussetzungen vorhanden sind, wird es ohne Ringen um das Wahre, das ja für jeden etwas anders aussieht, nicht gehen. Man muss deshalb eine Streitkultur entwickeln und lernen, sich gegenseitig zu kritisieren, damit jeder nach der Probe weiß, was zu verbessern ist und nicht das Gefühl bekommt, dass er es nicht schaffen wird. Und ganz wichtig ist, dass die Quartette wissen, wie sie wirklich spielen. Dazu brauchen sie ein Feedback nicht nur durch den Lehrer, sondern auch ein direktes Feedback durch Anhören der eigenen Aufnahmen.

RONDO: Ist es nicht oft ein Kreuz, von drei anderen Musikern abzuhängen? Ein Ensemble ist immer nur so gut wie das schwächste Glied.

Pichler: Ja, deshalb sollten alle Mitglieder sorgfältig ausgewählt werden. Es sollte eigentlich kein »schwächstes« Glied geben, das gilt vor allem in technischer und bildungsmäßiger Hinsicht. Wesentlich aber ist ebenso, dass die Charaktere der vier miteinander harmonieren und es erleichtert zum Beispiel das Ganze, wenn es eine Art Primus inter Pares gibt.

RONDO: Sie haben den Quartettnachwuchs im Blick. Gibt es ästhetische Unterschiede zwischen den Nationen?

Pichler: Es ist uns Wienern oder zumindest Wahl-Wienern nicht leicht gefallen, zum Beispiel die Musik von Bartók oder Schostakowitsch wie die eigene Muttersprache zu empfinden. Wir mussten uns wesentlich mehr informieren und orientieren als bei »unseren« Komponisten der Wiener Klassik und Romantik und der Wiener Schule, obwohl Mozart und Schubert immer das Schwierigste für uns blieb. Umgekehrtes gilt für Slawen oder Asiaten, wobei sicher die Klassik auch für sie immer am schwierigsten bleibt.

RONDO: Was schätzen Sie an der Arbeit an der Escuela Superior im Vergleich zu anderen Konservatorien?

Pichler: Die Schule wird von einem engagierten Doppeldirektorium um Paloma O’Shea geführt und hat einen sehr familiären Charakter. Man kennt alle Studenten, und das führt zu einer persönlichen Atmosphäre. In einer anderen Hochschule, wo das ganze Alban Berg Quartett sich gemeinsam um die Streichquartettklasse kümmert, haben wir trotz zentraler Lage bis zu dreißig Prozent Absagen in jeder Periode. In Madrid gibt es so gut wie keine Ausfälle, obwohl es völlig dezentral liegt, die Quartette zu jeder Unterrichtsperiode von weither reisen und von mir allein unterrichtet werden. Das schreibe ich auch der Atmosphäre der Schule zu. Alle Professoren in Madrid sind Nicht-Spanier, kommen von außen und unterrichten in Blöcken, bei mir sind es jeweils sechs Tage. So kommt man den Studenten viel näher.

RONDO: Nachdem sich Ihr Quartett aufgelöst hat, nehmen Sie vermehrt Engagements als Dirigent an. War es hart, die Perfektion, die Sie als Primarius des Alban Berg Quartetts gewohnt waren, auf die Orchesterarbeit zu übertragen?

Pichler: Das war nicht nur hart für mich, das ist es noch immer. Im täglichen Betrieb werden die Orchester zum Teil zu wenig gefordert, auch aus Angst der Dirigenten, sich unbeliebt zu machen. Ich bemerke aber, dass die Musiker letztlich glücklicher sind, wenn man ihnen das Letzte abverlangt, wenn dann das Konzert dementsprechend gut gelingt und sie über sich hinaus wachsen. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein und hebt natürlich die allgemeine Qualität. Als die schwierigste Aufgabe empfinde ich also, die Musiker davon zu überzeugen, wie schön es ist, Musik zu machen. Wenn sich dann so manches graue Gesicht erhellt und man allen die Freude ansieht, dann ist dies ein großes Glücksgefühl.

RONDO: Das letzte Konzert des Alban Berg Quartetts in Peking war eine Premiere. Hatte das im Abschied etwas Tröstliches?

Pichler: Der Direktor des neuen Auditoriums in Peking, das zu den Olympischen Spielen gerade fertig gestellt worden war, rief mich damals mit den Worten an: »Wir fangen an, Sie hören auf, also sollten Sie doch noch einmal zu uns kommen«. Die Promotion für das Konzert war fantastisch, es gab eine Pressekonferenz vor Dutzenden von Journalisten, und so wurde der riesige Saal zweimal voll, obwohl wir eigentlich ein zu anspruchsvolles Programm für ein unerfahrenes Publikum spielten. Die Jungfräulichkeit des Publikums mit seinen spontanen und sozusagen unprofessionellen Reaktionen (man klatschte zum Beispiel anfangs nach jedem Satz) war für mich eine Entlastung des Abschieds vom Podium als Quartett. Es ist schon ein sehr eigenartiges Gefühl, den letzten Ton für immer zu spielen. Im Juni dieses Jahres rief mich der Präsident des chinesischen Zentralkonservatoriums an und sagte mir, dass der Einfluss dieser Konzerte so groß war, dass heute, nach nur drei Jahren, über 60 Quartette an dieser Schule existieren. Die fünf besten davon wollte man mir vorstellen und sie waren so überwältigend gut, dass ist ich mich entschlossen habe, das eine oder andere davon nach Madrid einzuladen.

Escuela Superior de Música Reina Sofía

Die Escuela Superior de Música Reina Sofía wurde 1991 von Paloma O’Shea, einer baskischen Adeligen irischen Ursprungs, mit dem Ziel ins Leben gerufen, in Spanien eine hochrangige Musikausbildung anzubieten, was bis dahin nur im Ausland möglich war.
Heute wird die Privathochschule von jungen Musikern aus der ganzen Welt besucht, wobei Studenten aus Spanien, Portugal und Lateinamerika Quotenplätze haben. Der hohe Standard der Ausbildung schlägt sich nicht nur in der exzellenten Ausstattung der Hochschule nieder (nebst direkter Aufnahmemöglichkeit in allen Überäumen und einem von Sony gesponsorten Konzertsaal), sondern auch in der hohen Qualität der Professoren. Dafür sind die Studenten handverlesen und werden kräftig gefördert, aber auch gefordert. Die Beziehungen zur Wirtschaft – die Gründerin ist mit dem Präsidenten der Santander-Bank, Emilio Botín, verheiratet – nutzt die Hochschule für ein Scholarship-Modell, wodurch zum Beispiel im Fall der Quartett-Klasse von Günter Pichler die noch jungen Ensembles Ensembles teilweise oder komplett von den Studiengebühren (derzeit 14.000 EUR pro Semester) befreit sind und obendrein sowohl die Flüge nach Madrid als auch den Aufenthalt in Madrid bezahlt bekommen. Einen akademischen Abschluss vergibt die Schule nicht.
Zu den Professoren gehören unter anderen noch Zubin Mehta, Daniel Barenboim, Leon Fleisher, Menahem Pressler, María João Pires, Dimitri Bashkirov, Zackhar Bron, Hansjörg Schellenberger und Klaus Thunemann. Unter den Absolventen finden sich unter anderen Arcadi Volodos, Vadim Repin und das Cuarteto Casals, in der Streichquartettklasse studieren momentan das Amaryllis Quartett (Melbourne Preisträger 2011), das österreichische Acies Quartett, die englischen Quartette Cavaleri (Kompositionspreis des Borciani-Wettbewerbs in Reggio Emilia 2011) und das Piatti Quartett, das deutsche Schumann Quartett, das französische Voce und das bulgarische Arte Quartett.

Carsten Hinrichs, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 6 / 2011



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