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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Luca Concas

Musikstadt

Ravenna

Der Muti-Clan: Das ist keine Mafia-Organisation, sondern eine italienische Künstlerfamilie. Die Geschäfte zum Wohl ihrer Stadt macht.

Mama freut sich. Klein steht sie hinter dem Mischpult in der letzten Parkettreihe des Theaters mit seinem festlichen Ambiente in Grau, Blau und Gold. Angerührt schaut sie zu, wie sich dort oben ihre Kids produzieren. Sie haben den alten Opernknaller „Cavalleria rusticana“ seziert, auf ihre Art analysiert und wieder neuzusammengesetzt.
Die Jugendlichen, die angesichts des alten Stücks ihren Emotionen ungeniert freien Lauf lassen, das herkömmlich ablaufende „Cavalleria rusticana“-Musikdrama hernach, sie alle sind das Werk von Cristina Mazzavillani, die seit ihrer nun auch schon wieder 49 Jahre zurückliegenden Hochzeit mit Zweitnamen Muti heißt. Und obwohl ihr längst hier eingemeindeter neapolitanischer Gatte Riccardo zu den berühmtesten lebenden Italienern gehört, hat seine Frau, auch schon deutlich über 70 Jahre alt, in Ravenna die Hosen an. Und das nicht nur, weil sie hier geboren wurde und weiß, wie die Menschen in dieser eigenwilligen Stadt ticken. Sie hat auch am Ort ihre Familie großgezogen, Tochter Chiara und die beiden Söhne Francesco und Domenico – wenn man nicht in Sachen Musik gemeinsam auf Reisen war. Chiara, die mit dem Pianisten David Frey und ihrer Tochter in Paris lebt, ist Regisseurin; die Söhne sind in Mutis diverse Musikunternehmungen administrativ eingebunden.
Diese Clan-Politik funktioniert. Und Cristina Mazzavillani Muti, zäh, gegenwärtig blau gefärbt, mit blauer Sonnenbrille und blauem Eidechsen- Tattoo auf dem rechten Unterarm, sie ist die Mama dieses, ihres Ravenna Festivals. Auch wenn sie ihr Präsidentinnen- Amt, das sie seit der Gründung 1990 inne hatte, kürzlich abgegeben hat – sie atmet und lebt nach wie vor diese in Italien in ihrer Kontinuität ziemlich einzigartige Unternehmung. Die sich freilich gut in die ungewöhnliche Geschichte dieser Stadt einfügt.
Man ist hier schließlich nicht umsonst Weltkulturerbe. Einst ein wichtiger Hafen, ist die Siedlung zwar heute Kilometer hinter die von schönen Stränden verzierte Küstenlinie zurückgewichen, war aber zeitweilig Hauptstadt des Weströmischen Reiches, dann der Ostgoten, schließlich ein Vorposten für Byzanz. Neben den weltberühmten Goldmosaiken in den Kirchen wurde hier Theoderich in seinem Mausoleum zur letzten Ruhe gebettet. Und auch schon vor Cristina Muti ließ sich hier eine andere Kaiserin ein Grab erbauen: Galla Placidia. Und ein dritter Kaiser – der der italienischen Sprache: Dante Alighieri – liegt in der Nebengasse begraben, auch wenn seine Gebeine lange vor den begehrlichen Florentinern versteckt wurden. Nach ihm ist das nahe dem Grabtempelchen liegende Stadttheater benannt.
Doch das ist lange her, heute ist Ravenna mit seinen nicht mal 250.000 Einwohnern eine Beamten-, Industrie- und Touristenstadt. Und eine Kunstmetropole, dank der Mutis, Cristina im Besonderen. In dem Adria-Ort ist Geld, und das wollte man für Schöngeistiges ausgeben. Man hat Museen neu eingerichtet und modernisiert, man zelebriert die Kunst des guten Essens und des Genießens, denn hier ist nichts überrannt, Italien noch unverfälscht vom Massenmarkt mit Fremden. Und schließlich erschien Cristina Muti – die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, der Mann regierte als König der Mailänder Scala, sie selbst vor Ort natürlich bestens vernetzt – als die Richtige, um ein Ravenna Festival aus dem schlickigen Boden zu stampfen.

Binnen kürzester Zeit hat man sich damals neben dem Maggio Musicale Fiorentino und dem längst verblassten Spoleto Festival etabliert. Nicht so sehr als Festspiel-Hotspot für internationale Gäste (obwohl sich die auch durchaus sehen lassen) als für die Einheimischen wird hier ein Event- Füllhorn geöffnet. Cristina Muti hat die Kontakte, so konnte es in der Vergangenheit dann schon einmal passieren, dass für den kranken Georg Solti kein geringerer einsprang als – Carlos Kleiber.
So sind über die Jahrzehnte von Abbado bis Chailly alle Dirigentengrößen hier gewesen, die berühmten Orchester und Opernhäuser, Béjart und Wilson, Starballerino Roberto Bolle und andere Tanzgrößen, Jazz und Weltmusik, mal thematisch, mal frei flottierend, aber immer die grandiose Kulturgeschichte dieses Ortes weiterschreibend, im Theater, in der Sporthalle, vor allem aber in buntverzierten Klöstern und Kirchen wie der byzantinischen Basilika Sant’Apollinare in Classe, der Basilika San Vitale oder in San Nicolò. Und längst ist das Festival nicht mehr auf den traditionellen Termin von Juni bis Juli beschränkt. Denn immer mehr wurde Ravenna auch zum Alterssitz von Riccardo dem Großen.
Seit seine Zeit an der Scala vorbei ist, beschränkt sich dieser auf die Orchester in Chicago, München und Wien. Dazu kommt das von ihm gegründete Orchestra Giovanile Luigi Cherubini, das in Ravenna und Piacenza angesiedelt ist. Mit ihm geht Muti regelmäßig auf die so genannten „vie dell’amicizia“ (Wege der Freundschaft), und so fährt man seit 1997 an Orte, die musikalisch vernachlässigt werden, aber politisch beachtet werden müssen, von Sarajewo über Jerusalem, Beirut, Istanbul bis unlängst nach Teheran.
Seit 2012 gibt es zudem noch eine Herbst-Trilogie, bei der Cristina Muti gerne Opern im Dreierpack herausbringt. Bisweilen steht ihr Mann am Pult, aber immer als Gast, „der sich raushält“, wie die Dame betont. Dafür hat er sich in Ravenna zudem noch eine Gesangs- und Dirigierakademie eingerichtet. Alles fügt sich für die musikalische Zukunft. Wenn schon die italienischen Konservatorien die Ausbildung im Mutterland der Oper vielfach schleifen lassen, so wollen die Mutis eben praktisch ihren Teil dazu beitragen, dass das Erbe weiter erhalten bleibt und möglichst glänzt.

www.ravennafestival.org

Traumhafte Vielfalt

Das Ravenna Festival läuft vom 1. Juni bis zum 22. Juli 2018. „We have a dream“, lautet sein Motto. Die 29. Ausgabe ist eine Hommage an Martin Luther King. 50 Jahre nach seinem Tod bieten seine Worte eine Chance für ein Mosaik von Themen. Auf der einen Seite feiert man Amerikas – das Land der Träume – und auf der anderen Seite die Widerstandsfähigkeit der Musik als „Das neu gefundene Lied der Leier“. Und neben weltbekannten und geliebten Künstlern vergisst man nicht die Stimme der Stadt selbst, deren einzigartiges Erbe das Festival feiert. Wie sagt man doch im lokalen Dialekt? „A j ò fat un sogn.“ Die Herbst-Edition läuft dann vom 23. November bis zum 2. Dezember.

Matthias Siehler, 10.03.2018, RONDO Ausgabe 1 / 2018



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