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N° 1353
13. - 23.04.2024

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am 20.04.2024



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Hörtest

Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“: Alle auf Zucker

Ach ja, die Kinderoper! Falsch: Denn Humperdincks Partitur ist nicht rührselig, und zudem die beste Einstiegsdroge für Wagners Musikdramen.

Ob er jetzt Musik am laufenden Meter komponieren solle, herrschte Wagner den Verantwortlichen an, als eine Verwandlungsmusik im „Parsifal“ um ein weniges zu kurz geraten war. Und übergab die Aufgabe – Engelbert Humperdinck. Dieser, 1881 für die Vorbereitung der Uraufführung als Wagners Assistent angestellt, ergänzte die Takte so vollkommen im Stil des Lehrers, dass niemand einen Unterschied feststellen konnte. Seine Zeit in Bayreuth, so einflussreich sie war, geriet zum Fluch. „Seitdem ich zu Wagner nach Bayreuth gekommen bin, hat es mit der eigenen Produktion ein plötzliches Ende genommen“, verriet Humperdinck brieflich einem Freund. Und hielt sich als Musiklehrer und Arrangeur fremder Werke – auch des „Parsifal“ – über Wasser.
Die Wende kam 1890 mit einer Bitte: Humperdincks Schwester, Adelheid Wette, hatte aus Grimms Märchen von „Hänsel und Gretel“ ein Singspiel gemacht und bat ihren Bruder, die eingestreuten Liedzeilen zu vertonen. Die Aufführung im heimischen Rahmen gelang und hätte folgenlos bleiben können. Doch Humperdinck lässt der Stoff keine Ruhe: Nach und nach komponiert er daraus eine romantische Oper von knapp zwei Stunden Dauer. Erst zum Schluss verfasst er die berühmt gewordene Ouvertüre, als „sinfonischen Prolog“, wie er selbst sagt. Ausgehend vom erzgebirgischen Abendsegen, der ins Waldesdunkel eines vierstimmigen Hörner-Chorals getaucht erscheint, fasst sie das Geschehen vorausgreifend zusammen.
Am 23. Dezember 1893 feiert die Oper ihre Uraufführung am Weimarer Hoftheater. Am Pult steht niemand geringeres als Richard Strauss, der sich wie auch Gustav Mahler für das Werk stark macht; Mahler nennt die Oper sogar „ein Meisterwerk“. Binnen weniger Tage kommt es zu weiteren Aufführungen in München und Karlsruhe, über 50 Bühnen spielen das Werk nach. Heute gehört die Oper, deren finanziellen wie künstlerischen Erfolg Humperdinck nie mehr einholen konnte, zu den meistgespielten überhaupt.
Vielleicht liegt das auch an der Entscheidung, die ohnehin unwirkliche Zauberwelt des Märchens nicht zu doppeln, sondern ernsthaft zu schildern. Der Niedergang der Handwerker (der nach der Industrialisierung zu Humperdincks Zeiten Alltag war) wird ebenso angeschnitten wie die Überforderung der Mutter durch ihre Kinder. Als roter Faden zieht sich eine christliche Heilsgewissheit durch das Werk, die in einer stummen Engel-Erscheinung Entsprechung findet – freilich, wie auch das Taumännchen, erst im Schlaf der sich fürchtenden Kinder im Wald, und so halb schon im Traumreich angesiedelt.
Apropos „Erlösung“: Man tut dieser Oper keine Gewalt, wenn man sie als Einstiegsdroge für die Musikdramen Richard Wagners liest. Wie in einem Kondensat finden sich dessen Themenstellungen und Motive, naturgemäß viel „Siegfried“ mit Waldesrauschen und Sturm. Auch der „Waldvogel“ kehrt hier im Zwitschersopran des Taumännchens wieder, das die Kinder zielsicher der Drachenhöhle, pardon: dem Haus der Hexe zuführt. Ihr ist als Verwandlungsmusik der „Hexenritt“ gewidmet, eine kaum verhohlene Persiflage des „Walkürenritts“. Die Schlafmotivik des „Feuerzaubers“ leuchtet durch im Zauberspruch der Hexe, die die Kinder zur Bewegungsunfähigkeit verdammt. Und wird ähnlich aufgebrochen im verzehrenden Glutprasseln der „Götterdämmerung“ – allerdings in Form eines furios explodierenden Ofens. So ist auch die Erlösung aus Schuld und Verstrickung, Wagners zentrales Anliegen, dieser Oper eingeprägt. Auch wenn es keine Germanengötter sind, sondern Lebkuchenkinder, die vom christlichen Mitleid abgelöst kwerden. Humperdinck nannte die Oper selbst spöttisch sein „Kinderstubenweihfestspiel“.

Honigkuchen und Fichtenöl

Daraus ergibt sich der Verdacht, dass Wagnerdirigenten hier zur Höchstform auflaufen. Bei der Besetzung sind vor allem Klangfarbe und Mischung der Soprane von Hänsel und Gretel entscheidend. Und es bleibt eine alte Streitfrage in Punkto „Hexe“: Besetzt man einen rauchigen Alt oder ist sie eine Paraderolle für gealterte Tenöre? Humperdinck lehnte das ab.
Eine Überraschung vorweg – von den zahlreichen Aufnahmen der Oper sind derzeit nur wenige verfügbar, aus den 70er Jahren stammen allein die Hälfte der hier besprochenen Titel. Andere sind aus dem Katalog gestrichen (Cluytens, Runnicles, Tate, Pritchard).
Der größte Pferdefuß der Lesart von Fritz Lehmann (1954) liegt nicht etwa in der Mono-Aufnahme, sondern dem allzu biedermeierlichen Schöngesang. Bei Rita Streichs Gretel wird die Erdbeer- Sammelidylle ein herziger Heimatfilm. Dafür gibt es ein echtes Tau-Männchen (Knabensopran) und mit Res Fischer eine Hexe wie aus dem Pariser Salon, eine echte Femme fatale.
Mono ist auch die Version von Herbert von Karajan, bereits ein Jahr zuvor aufgenommen. Doch schon die Hörner zu Beginn haben blitzende Zähne. Zu Lehmann steht die Aufnahme wie der Wolf zu den Sieben Geißlein. Das gilt auch für den Cast: Die Mutter ist wirklich zornig, die Kinder machen Quatsch, selbst Else Schurhoff als Hexe schnarrt näselnd. Karajan rührt natürlich einen ordentlichen Schuss Pathos in den Orchesterklang, das macht ihn viskos und tiefgründelnd, aber er feilt auch verliebt am Detail. Da stiehlt die instrumentale Gestaltung dem Staraufgebot mit Elisabeth Grümmer und Elisabeth Schwarzkopf fast die Show – bis auf den Abendsegen, den beide einfach überirdisch schlicht und anrührend hinbekommen.
Otmar Suitner (1971) beschert uns die erste Stereo-Aufnahme der Auswahl. Was bei Karajan noch als Tapete hinter den Stimmen verschwand, lässt sich nun in Instrumentalfarben räumlich auffächern. Und ein paar flottere Tempi tun dem Geschehen auch mal gut. Hier ist Pfeffer drin! Mit Theo Adam hat die Besetzung auch einen glaubwürdigen Vater im Zentrum, dem man endlich abnimmt, dass er selbst angesäuselt irgendwen retten könnte. Und Suitner führt die Tenor-Hexe gleich auf Weltniveau ein, auch wenn Schreier in unseren Ohren einfach immer anständig klingt, selbst beim Kinderbacken.
Zum Mäusemelken ist hingegen, dass es die Aufnahme unter Kurt Eichhorn (1971) derzeit nur noch als Querschnitt gibt. Was für ein All-Star-Ensemble! Anna Moffo und Helen Donath als Kinder, Dietrich Fischer-Dieskau als Vater (noch besorgter als Theo Adam), Christa Ludwig gibt die Hexe mit viel Zungenrollern. Und selbst Sand- und Taumännchen sind mit Arleen Auger und Lucia Popp luxuriös besetzt. Einzig das Klangbild ist leider eine Spur zu hallig geraten.
Eine Besonderheit konnte Heinz Wallberg (1974) ins Feld führen: Sein Hänsel ist ein echter Knabensopran. Doch auch wenn Eugen Hug sich fantastisch schlägt, wird die Einspielung dadurch insgesamt etwas blass. Und das, obwohl Edda Moser als Hexe und Hermann Prey als Vater stark überzeichnen, um das aufzufangen. Prey hat überraschender Weise auch mit der Höhe der Partie zu kämpfen, passagenweise fällt seine Stimme unter das Orchester.
Die nächsten beiden Kandidaten fallen trotz der Gemeinsamkeit, dass sie als SACD nicht nur Stereoklang, sondern auch 5.1-Räumlichkeit anbieten, extrem unterschiedlich aus. Die frisch erschienene Aufnahme unter Marek Janowski (2017) präsentiert einen ausgewiesenen Wagner-Spezialisten, wovon die Ouvertüre und Zwischenspiele beredtes Zeugnis ablegen. Leider, muss man aber sagen, als Live-Aufnahme. Die dynamische Spannbreite dieser Einspielung bewegt sich auf unverständlich schmalem, stets gleich stark asphaltiertem Pfad, vom geheimnisvollen Murmeln, Rauschen und Wispern keine Spur. Dazu kommen die Sänger: Katrin Wundsams Hänsel gerät leider säuerlich und gepresst, Ricarda Merbeths Mutter flackert unfokussiert und wirft ihre Hochtöne wie Rettungsanker aus. Glorreiche Ausnahme ist Albert Dohmen als Vater, ein Bariton mit Bassfundament, der seiner Partie viel Würde und gestalterische Kraft verleiht. An Christian Elsner könnte man die ganze Misere der Tenor-Hexen aufzeigen. Wenn wie hier zu viel sprechgesungen und stimmlich geslapstickt wird, verpufft das Bedrohungspotenzial der Figur, und das macht den saftigen Lebkuchen von Humperdincks Partitur so trocken wie Schiffszwieback. Martin Hoff (2014) ist einen anderen Weg gegangen, als er den Nachfolger des Uraufführungsorchesters dirigierte. Es klingt, als ob Hoff den Plot (und in Folge auch die Partitur) mit dem meisten Respekt, ja geradezu liebevoll behandelt hätte. Die Einspielung ist durchdacht und ausgewogen in der Qualität der Stimmen, dabei aber fantastisch aufgenommen: Die ganze Breite der Dynamik auskostend, mit allen Klangfarben des Orchesters prunkend und lockend. Hier ist der abgebildete Raumklang ein echter Gewinn!
Dass von Georg Solti (1978) Besonderes zur Diskografie beigesteuert würde, war zu erwarten. Das fängt bei den Sängern an: Lucia Popp darf diesmal die Gretel singen, brillant ergänzt von Brigitte Fassbaender als Traumbesetzung für Hänsel. Walter Berry bringt dem Vater wienerischen Schwung bei (was der Rolle aber nicht nur gut tut), Edita Gruberová darf stimmlich gleißenden Tau versprenkeln, und Anny Schlemm bekommt den goldenen Besen für die gruseligste Hexe. Ihre Gewaltfantasien machen nicht mal vor der Aussprache halt, aber bei ihrem Zauberspruch bleibt einem einfach das Herz stehen. All das wird eingebettet in einen orchestralen Fluss, der wo nötig aufbrandet und mitreißt, morgendlich funkeln kann oder den Wald spürbar tief atmet. Dem Honigkuchen, den Solti uns hinhält, wurde bitteres Fichtenaroma eingebacken, seine Palette kennt alle Farben und weiß sich vor Süßlichkeit zu hüten.

Auf der Himmelsleiter:

Sir Georg Solti, Lucia Popp, Walter Berry, Brigitte Fassbaender, Wiener Philharmoniker

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Carsten Hinrichs, 09.12.2017, RONDO Ausgabe 6 / 2017



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