home

N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Fernando Sancho

Pablo Heras-Casado

Im Auge des Sturms

Das Jubiläumsjahr Monteverdis nimmt der Dirigent zum Anlass und erfüllt sich einen Jugendtraum: einen Streifzug durch Monteverdis geistliches Spätwerk.

Längere Zeit weiß man das Gefühl nicht zu beschreiben, das einen sowohl im Gespräch, als auch im Konzert mit Pablo Heras-Casado unweigerlich befällt. Es ist, als ob irgendwo ein Tisch mit viel Zeit und Liebe gedeckt würde – im Auge eines Sturms. Seltsam scheint die Ruhe, die der Dirigent ausstrahlt, der doch einer der vielseitigsten und meist beschäftigten des aktuellen Konzertbetriebs ist. Dass Heras-Casado trotz seiner steilen Karriere, dem Ruhm und dem Stress nicht abgehoben wirkt, teilt sich unmittelbar mit. Aber es steckt mehr hinter der gelassenen Menschlichkeit, eine Qualität, die sich bis hinein in die musikalische Ausarbeitung seiner Interpretationen zieht. Dabei gibt es kaum eine Epoche, in die der wissbegierige Workaholic sich nicht schon vertieft hätte. „Man darf nicht immer nur auf die Noten und Instrumente sehen und sich darüber unterhalten, wie genau zu dieser und jener Zeit die Bogenführung wohl gewesen sein muss. Vor allem muss man sich der Atmosphäre, dem Geist der Zeit und der Region widmen, aus der das Stück stammt!“ Historisch informierte Aufführungspraxis ist für den Andalusier kein Trend, keine Strömung, sondern seit jeher ein Selbstverständnis.
Und mit diesem erfüllte er sich nun einen Kindheitstraum: Innerhalb von drei Tagen wurden gemeinsam mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble Auszüge aus der „Selva morale e spirituale“ von Claudio Monteverdi aufgenommen. „Ich war – glaube ich – siebzehn, als ich dieses wundervolle Werk im Rahmen eines Meisterkurses das erste Mal dirigieren durfte, spät nachts in einer nordspanischen Kirche. Seit damals wollte ich es wieder einmal aufführen.“ Zum 450. Geburtsjubiläum Monteverdis ist der bestmögliche Anlass für eine Veröffentlichung gekommen. Und so wurde jetzt das Album, vom Label getragen und in seiner Besetzungsgröße durchaus als Prestigeprojekt einzustufen, in Murcia aufgenommen.

Spiritualität und Sinnlichkeit

„Die ‚Selva morale‘ beinhaltet ja gewissermaßen Monteverdis Testament. Im Gegensatz zu anderen Stücksammlungen hat Monteverdi sie selbst als Kompendium für die Nachwelt angelegt. Die Bandbreite von Gefühlen und Stimmungen in den Stücken ist enorm“, so Heras-Casado, „Monteverdi hatte ein bemerkenswertes Gespür für die Kombination von Spiritualität und Sinnlichkeit. Die multikulturelle, weltliche Fülle Venedigs im frühen 17. Jahrhundert kommt da wundervoll zur Geltung!“ Ist es möglich, die geistliche Musik der Renaissance und des Barock zu schätzen und zu verstehen, wenn man so gar keinen religiösen Bezug hat? „Nun ja, ich selbst bin zwar katholisch erzogen worden und habe durch meine Gesangs-, und Dirigententätigkeit mein halbes Leben in Kirchen verbracht, bin aber kein praktizierender Christ“, räumt der Dirigent ein und fährt fort: „Es ist allerdings meine Überzeugung, dass der spirituelle Kern der Musik jeden ansprechen und berühren kann, ohne Bezug auf eine bestimmte Religion nehmen zu müssen.“
Das erste Konzert, sozusagen der öffentliche Testdurchlauf des Programms, fand schon letztes Jahr im Kloster Melk statt. Ein sakraleres Ambiente als den barocken Prachtbau auf seinem Felsen oberhalb der Donau kann man sich gar nicht vorstellen – eine wärmere, behutsamere Interpretation wohl auch nicht. Pablo Heras- Casado betont, dass sich Konzert und Aufnahmeprozess genau darin unterscheiden: Während eine Aufnahme die Intimität einer Probe auszeichnet, wird das Konzert von Adrenalin und Einheit mit dem Publikum bestimmt. Dennoch ist auch die Intimität des Live-Erlebnisses verblüffend. In der sechzig Meter hohen Kuppel der Stiftskirche, ausgestattet mit hunderten goldener Cherubim und gewaltigen roten Marmorsäulen, geschieht etwas zutiefst Persönliches. Als princeps inter pares gestaltet Heras-Casado die Musik Monteverdis gemeinsam mit den Musikern als Herzensangelegenheit. Kein gebieterisches Fuchteln, kein verhaltenes Zucken, nur innige Arbeit. Mal wirkt es, als wolle er ein großes Tier streicheln, mal pflückt er unsichtbare Früchte, mal drückt er liebevoll imaginäre Samen in den Boden. Selbst ohne das Wissen, dass Heras-Casado auf dem Land groß geworden ist, bleiben genau diese Handlungen in seinen einladenden Gesten erkennbar. Orchester und Chor entwickeln ein erdig- volles, zugleich aber sehr frisches Klangbild. Den Zuhörer an die Hand nehmend, betreten sie die Monteverdischen Kompositionen wie einzelne Zimmer, öffnen Schubladen und Schränke, um auch noch die verstecktesten Reibungen oder satztechnischen Finessen wirkungsvoll zu präsentieren. Mit jedem Stück der „Selva morale“ wird deutlicher, was sich hinter dem nicht greifbaren Eindruck wärmender Ruhe verbirgt, die Pablo Heras-Casado umgibt: Es ist das Gefühl, in Musik zuhause zu sein.

Neu erschienen:

Claudio Monteverdi

Selva morale e spirituale

Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble, Pablo Heras-Casado

hm

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Wunderwald

Die „Selva morale e spirituale“ ist eine von Monteverdi selbst angelegte Sammlung geistlicher Werke aus u.a. Messen, Motetten, Canzonetten und Madrigalen. 1640/41 veröffentlicht, zeigt sie einen Querschnitt durch Monteverdis vielfältiges Schaffen und seine Art, die alten liturgischen Texte im musikalischen Geist der damals kulturell überschäumenden Metropole Venedig neu zu beleuchten. Dabei ist die Sammlung nicht nur Eigenwerbung des Komponisten, sondern durchaus praktischer Natur: Kirchenmusikern seiner Zeit bot Monteverdi damit erstklassige Kompositionen frei Haus – für Besetzungen von Solo- bis Achtstimmigkeit und quer durch die Liturgie des Kirchenjahres.

Konrad Bott, 25.11.2017, RONDO Ausgabe 6 / 2017



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Alte Bekannte und Neue Töne

Klack, klack, klack. Mit diesem monotonen, hundertfach vergrößerten und polyrhythmisch […]
zum Artikel

Gefragt

Mia Brentano

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Ein geheimnisvoller Name, der für Experimente zwischen Jazz und neo-romantischem Melos steht. […]
zum Artikel

Gefragt

NSO Tatarstan

Internationaler Klang

Das Nationale Sinfonieorchester Tatarstan aus der Hauptstadt Kasan geht im Dezember erstmals in […]
zum Artikel


Abo

Top