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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Jubiläumsjahr

Wagner weiterdenken, von Martin Geck

Kein Komponist hat das 19. Jahrhundert so geprägt, ist schon zu Lebzeiten so gehasst und vergöttert worden wie Richard Wagner. Und heute?

Als frischgebackener Gründungsredakteur der Münchner Richard- Wagner-Gesamtausgabe habe ich 1969 einem betagten Wagner-Fan die Wagner-Büste von Lorenz Gedon abgekauft. Sie war schon damals recht wertvoll, nämlich aus Bronze. Das war in Berlin, und eine großzügige Flugzeugcrew erlaubte mir, das schwere Stück eigenhändig über die Piste zum Flugzeug zu schleppen und auf dem Sitz neben mir zu platzieren – natürlich angeschnallt. So ist Richard Wagner postum zu seinem ersten Flug gekommen; und der ging ausgerechnet nach München, also in die Stadt seiner „Tristan“- und „Meistersinger“-Erfolge. Inzwischen bin ich nicht mehr mit der Herausgabe des „Parsifal“ oder des „Wagner-Werkverzeichnisses“ beschäftigt, wohne auch nicht mehr in München. Doch die Gedon-Büste thront immer noch auf dem höchsten Regal meines Arbeitszimmers. Und so kann mich Gedons Wagner, vom Künstler mit einem höchst energischen Kinn ausgestattet, immer wieder mal fragen: „Was habt ihr aus meiner Kunst gemacht?“

„Meine Maxime: lieber keine Aufführung als eine schlechte!“

„Ja“, kann ich ihm dann mit Stolz erklären, „die 3790. Aufführung deiner Werke, die dir Ernst Benedikt Kietz, Gefährte deiner Pariser Hungerjahre, in seiner Groteskzeichnung für das Jahr 1950 prophezeit hatte, ist längst und bei weitem überschritten. Da darfst du dich nicht beklagen. Was wallt und webt, will Wagner!“ – „Und meine Musik, wie geht es ihr? Du kennst meine Maxime: lieber keine Aufführung als eine schlechte!“
Auch da muss sich Wagner – ich breche den imaginären Dialog ab – inzwischen keine Sorgen mehr machen: In aller Welt wird seine Musik vielfach auf höchstem Niveau musiziert; und Kritiker, die von Berufs wegen ein Haar in jeder Suppe zu finden haben, sind manchmal nicht zu beneiden. Natürlich werden herausragende Brünnhildes und Siegfrieds weiterhin als gesuchte Raritäten gehandelt. Doch insgesamt gilt: Wer guten Wagner hören will, hat dazu allenthalben Gelegenheit – auch via Tonträger.

Von seiner Ring-Inszenierung war Wagner entsetzt.

Doch nicht von ungefähr gilt diese Erfolgsmeldung dem Hören. Ein anderes Ding ist es mit dem Schauen und dem Meditieren – Stichwort „Regietheater“ und Stichwort „Ideenkunstwerk“. Unter Musikwissenschaftlern wie unter Wagner-Liebhabern gibt es Puristen, die gleich das ganze Wagner-Gebäude einstürzen sehen, wenn ein Regisseur auch nur einen Furz loslässt, der ihnen übel in die Nase steigt. Diese Menschen sollten sich vergegenwärtigen, wie entsetzt Wagner von seiner eigenen „Ring“-Inszenierung im Jahr 1876 war: In seiner Fantasie hatte er sich alles viel spiritueller vorgestellt, als es dann herauskam. Vor allem die Historisierung der Bühnengestalten scheint ihm so missraten vorgekommen zu sein, dass er nach getaner Tat todunglücklich war, vor Kummer am liebsten gestorben wäre und sich für den „Parsifal“ das „unsichtbare Theater“ als Pendant zum „unsichtbaren Orchester“ wünschte.
Wir Heutigen dürfen uns somit gern an Wagners eigenes Wort „Kinder, schafft Neues“ halten, wie auch immer er es gemeint haben mag. Und zugleich wird es, darf es und muss es in einer freien Kulturlandschaft beständig Diskussionen darüber geben, ob es dennoch eine „Grenze“ gibt, die es zu respektieren gelte. Ich definiere diese Grenze so: Eine Regisseurin, ein Regisseur muss wissen, dass er nicht sich inszeniert, sondern Wagner. Das ist nicht so theoretisch gedacht, wie es im ersten Augenblick klingt: Stellen wir uns vor, man würde Wagner ‚neu’ komponieren – so wie Strawinsky in der „Pulcinella-Suite“ Musik im Geiste Pergolesis oder Hans Zender Schuberts „Winterreise“ ‚neu’ komponiert haben. Vergleichbares hätte in meinen Augen auch bei Wagner einen guten Sinn: Da es authentische „Ring“-Musik zuhauf gibt, litte niemand Mangel, wenn man etwa den „Ring“ musikalisch weiterdenken würde. Ich selbst habe auf einem kleinen Wagner-Kongress den Vorschlag gemacht, den Schluss der „Götterdämmerung“ musikalisch aufzuforsten – den „Ring“ also nicht utopisch-verklärend mit dem „Liebeserlösungsmotiv“ enden zu lassen, sondern mit den elektronisch verzerrten Klängen der Grals-Glocken. Da würde jedem Hörer signalisiert, in welches Utopia der späte Wagner seine Gemeinde zu führen gedachte: nicht in das gelobte Land einer von Zwängen befreiten Gesellschaft, sondern in die von leibfeindlichen Ritualen beherrschte Gralsrunde.
Man könnte die Musik der „Götterdämmerung“ auch mit einem makabren Ausblick auf das Schluss-Inferno von Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ enden lassen und damit andeuten, dass Weltuntergänge nicht so schaurig- schön sein müssen, wie sie Wagners Musik malt, vielmehr ganz schrecklich ausfallen können. Doch was immer man vor einem solchen Denkhorizont unternähme – es müsste durchdacht sein und eine produktive Auseinandersetzung mit Wagners Ideenwelt darstellen. Daher wäre es billig, die „Götterdämmerung“ etwa mit dem Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch“ zu beschließen, nur weil Wagners Bühnenwerke im Nationalsozialismus und Hitler im damaligen Bayreuth wohlgelitten waren. Denn aufs Ganze gesehen, hat der „Ring“ nichts mit einer Nazi-Ideologie gemein.
Ebenso wenig wie Wagners „Rienzi“. Dass Hitler diese Oper besonders gemocht hat, bedeutet nicht, dass Wagners Rienzi-Figur auf Hitler hinwiese. In Rienzi stellt der Komponist vielmehr die psychologisch durchdachte, ebenso charismatische wie labile Gestalt eines Volkstribunen vor, der nicht wie Hitler sein Volk ins Verderben führt, sondern zwischen den Fronten von Adel und Volk zerrieben wird. Wenn eine unlängst in Berlin vorgestellte „Rienzi“-Inszenierung die Oper fast vollständig in einer Art Nazi-Milieu ansiedelt, so hat dies nichts mit Wagner zu tun, sondern eher „edle“ Züge werden durch die Regie immer wieder ad absurdum geführt. Wem soll damit gedient sein? Warum führt man „Rienzi“ überhaupt auf, wenn man die Oper insgesamt nur denunzieren will?

Das schöne Unendliche kollidiert mit dem schlechten Endlichen.

Damit bin ich beim Stichwort „Ideenkunstwerk“: In meinen Augen ist es vergeudete Energie, die Werke Wagners aufzuführen, ohne den Hörern einen Sinnhorizont zu verdeutlichen. Damit rede ich keiner konventionell-ängstlichen Regie das Wort. So ist es zum Beispiel durchdacht, dass Marthaler seinen Bayreuther Tristan einsam in einem Klinikbett verrecken lässt: Da wird eine tiefgreifende Spannung zwischen der Vorstellung unseres irdischen Jammertals und der Idee von der „Trösterin Musik“ spürbar; und man kann sich als Zuschauer fragen: ‚Wie gehe ich mit dieser Spannung um – hier in der Aufführung und morgen in meinem Leben?’ Mit anderen Worten: Marthaler greift die erzromantische, letztlich metaphysische Frage auf, wie der Mensch damit klarkommen könne, dass das schöne Unendliche beständig mit dem schlechten Endlichen kollidiert.
Lassen wir uns nicht von Postmoderne à la „anything goes“ und Eventkultur bezirzen! Fragen wir weiterhin insistierend: Wagner – was soll mir das? Wagner hat Antworten – schöne, unschöne und zumeist spannende.

Martin Geck ist Professor emeritus für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund und war Gründungsredakteur der Richard- Wagner-Gesamtausgabe. Bekannt ist er u.a. für seine Musikerbiografien. Zum Jubiläumsjahr erschien diesen Herbst seine neue Gesamtdarstellung des Lebens von Richard Wagner.

30.11.1999, RONDO Ausgabe 6 / 2012



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