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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Genius loci: Karlheinz Stockhausen im Studio für elektronische Musik des WDR, 1962 (c) WDR

Pasticcio

Wiege der Zukunftsmusik

„Eine Lokomotive, die Dampf ablässt, das Trillern eines Weckers, Explosionen aller Art, Sirenenheulen, Kichern, Scharren, Gebell erregen Unmut und Ärgernis oder reizen die Lachmuskeln unwiderstehlich.“ Wer am 2. Juni 1956 den „Kölner Stadt-Anzeiger“ aufschlug, wusste sofort, dass er etwas Spektakuläres verpasst hatte. Denn drei Tage zuvor, am 30. Mai, war im Kölner Funkhaus des WDR die Musik auch aus ihrem konventionellen Aufführungskorsett ausgebrochen. In dem Konzert „Unerhörte Musik“ hatten sich sieben Komponisten mit Werken vorgestellt, für die man nicht mehr Interpreten aus Fleisch und Blut benötigte. Stattdessen standen auf dem Podium mannshohe Lautsprecherboxen. Oder über den Köpfen des Publikums baumelten von der Decke riesige und spacig anmutende Mehrkanal-Gebilde, aus denen nun bizarre Frequenzfäden und scheinbar wildgewordene Ton-Partikel herausdrangen.
Für einen der Komponisten, der fortan als der Pionier in der elektronischen Musik gelten sollte, waren dies Klänge, „die wie nichts auf der Welt klingt.“ Und dafür hatten sich damals das Junggenie Karlheinz Stockhausen wie sein Mentor Herbert Eimert und Altmeister Ernst Krenek monatelang im Kölner Studio für elektronische Musik des WDR verschanzt – um in mühevoller Kleinarbeit an den Mischpulten und Tonbandgeräten diese neue Musik zu erfinden.
Für die meisten Ohrenzeugen von einst waren diese elektronischen Sounds eine einzige Provokation. Heute hingegen gilt nicht nur der an jenem Abend uraufgeführter „Gesang der Jünglinge“ von Stockhausen als Manifest dieser elektrifizierten Aufbruchszeiten. Das 1951 von dem Akustiker Werner Meyer-Eppler, dem Tonmeister Robert Beyer sowie dem Komponisten und Hörfunkredakteur Herbert Eimert gegründete Studio für elektronische Musik des WDR besitzt längst einen legendären Ruf auch unter Rock- und Pop-Musikern. Denn was alles an den Sinus-Generatoren und Ring-Modulatoren an abenteuerlichen Sound-Konstellationen synthetisiert wurde, hat allein in Deutschland gleich mehrere Musikergenerationen inspiriert. Ob nun die Berliner New Age-Elektroniker Tangerine Dream, das Düsseldorfer Synthie-Pop-Kollektiv Kraftwerk oder die Kölner Krautrock-Urgesteine Can, von denen zwei Musiker sogar bei Stockhausen studiert hatten.
Im Studio für elektronische Musik des WDR wurde somit Musikgeschichte geschrieben. Und trotzdem war es zuletzt um die antiken Gerätschaften nicht besonders gut bestellt. Denn nach der offiziellen Schließung des Studios im Jahr 2001 hatten sie in einem Keller in Köln-Ossendorf ein leicht beengtes Zuhause gefunden. Dort kümmerte sich bisher der Toningenieur Volker Müller nicht nur rührend um diese wertvollen Schätze der Neuen Musik. Für Besucher und Neugierige schaltete er die technischen Dinosaurier noch mal an, um mit ihnen dann eine Klangreise zurück in die Zukunft anzutreten.
Nun aber scheint das Studio endlich ein würdiges neues Domizil mit hohem Symbolwert gefunden zu haben. Vor den Toren von Köln, in Mödrath, soll es in dem auf die verschiedenen Künste spezialisierten „Haus Mödrath“ untergebracht und zu neuem Leben erweckt werden. Nicht zuletzt Karlheinz Stockhausen, der 2007 verstarb, wird diesen Plan von irgendeiner intergalaktischen Wolke aus mit doppelter Freude zur Kenntnis genommen haben. Denn das Studio zieht damit nun in das Haus ein, in dem dieser Visionär der zeitgenössischen und damit auch der elektronischen Musik 1928 geboren wurde.

Guido Fischer



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