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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Sung Yull Nah/ACT

Youn Sun Nah

Reisende soll man nicht aufhalten

Die südkoreanische Sängerin eroberte Europa in den vergangenen Jahren im Sturm. Nun hat sie die USA im Visier.

Was für eine phänomenale Erscheinung die südkoreanische Sängerin Youn Sun Nah auf der Bühne ist, konnte man beim 25-jährigen Jubiläum ihres Labels im Berliner Konzerthaus sehr gut studieren. Bei der zierlichen Asiatin wohnen mehrere Sängerinnenseelen zugleich in der Brust: Sie kann röhren wie Janis Joplin, scatten wie Maria João oder unheimliche Hexenlaute produzieren wie Björk. Gemeinsam mit ihrem Duett-Partner an der akustischen Gitarre, dem Schweden Ulf Wakenius, nahm sie das Berliner Publikum im Sturm – ganz so, wie sie es zuvor in ihrem Heimatland und dann in Frankreich gemacht hat, wo die langjährige Wahl-Pariserin als die erfolgreichste Jazzsängerin der vergangenen Zeit gilt.
Kaum zu glauben, dass es mal einen Punkt in Youn Sun Nahs Karriere gab, an dem sie mit dem Jazz komplett aufhören wollte. Und zwar kurz nachdem sie ihn entdeckt hatte. Da war sie 25 und gerade aus Südkorea nach Paris gezogen, um dort zu studieren. „Ich hatte vorher nie wirklich Jazz gehört“, gesteht die Sängerin einen Tag nach dem Jubiläumskonzert in einem gegenüber dem Konzerthaus gelegenen Berliner Hotel, „ich habe das alles erst in Paris entdeckt.“
Dort konfrontierte man sie hochschultypisch zunächst mit den Ikonen, mit Ella Fitzgerald, Billie Holiday oder Sarah Vaughan. „Ich wusste von Anfang an, dass ich eine falsche Entscheidung getroffen hatte“, erzählt Youn Sun Nah, während sie der Kellnerin hilfsbereit ausgetrunkene Kaffeetassen und leere Wasserflaschen anreicht. „Ich habe eine Sopranstimme, nicht so eine tiefe, rauchige Stimme wie diese Sängerinnen. Nach dem ersten Jahr wollte ich das Studium aufgeben und wieder nach Hause.“ Doch ihre Lehrer akzeptierten diese Entscheidung nicht und drückten ihr CDs von europäischen Sängerinnen wie Norma Winstone oder Lauren Newton in die Hand. „Ich war so überrascht!“, platzt es aus Youn Sun Nah heraus, „das darf sich Jazz nennen? Wenn das so ist, kann ich es mit meiner Stimme auch mal probieren.“

Gekommen, um zu bleiben

Ein Gesinnungswechsel mit weitreichenden Folgen: Aus den drei Jahren, die die Koreanerin ursprünglich in Paris zu Studienzwecken zu verbringen gedachte, wurden zwanzig. Und aus der Lernenden, die sich in vier verschiedenen Studiengängen gleichzeitig eingeschrieben hatte („Das ist so typisch koreanisch!“, lacht Nah) eine der ungewöhnlichsten neuen Stimmen im Feld des europäischen Jazz und seiner Anrainergebiete.
Der Grund: Youn Sun Nah, die Quereinsteigerin, zeigte keinerlei Berührungsängste. Zu ihrem Repertoire gehörten französische Songs genauso wie südkoreanische Volkslieder, die Umarbeitung des Schlaflied-Schockers „Enter Sandman“ der Metal-Band Metallica stand wie selbstverständlich neben einer skurrilen Version des Jazzstandards „My Favourite Things“, bei der sich Youn Sun Nah nur am Daumenklavier begleitete. Für so viel Unorthodoxes wurde sie in Frankreich und in Deutschland, der Heimat ihrer Plattenfirma, mit zahlreichen Preisen belohnt.
Nun hat die 47-Jährige einen nächsten großen Schritt unternommen. Ihr programmatisch „She Moves On“ betiteltes Album ist in den USA entstanden. Produziert von dem John- Zorn-Keyboarder Jamie Saft und eingespielt von amerikanischen Spitzenmusikern wie dem Saiten-Magier Marc Ribot legt es Zeugnis davon ab, dass die Koreanerin auch im Hoheitsgebiet von Sängerinnen wie Norah Jones, Lizz Wright oder Madeleine Peyroux eine außerordentlich gute Figur macht. Eher unbekannte Stücke von Lou Reed, Paul Simon, Joni Mitchell oder Jimi Hendrix, die allesamt mit Metaphern des Reisens, des Unterwegsseins und der Seefahrt durchsetzt sind, interpretiert Youn Sun Nah auf ihre eigene unverwechselbare Art: mit unbestechlicher Stimmsicherheit und Gänsehaut erzeugender Zerbrechlichkeit.
„Das war etwas, was ich unbedingt wollte: mal mit amerikanischen Musikern zusammenarbeiten. Um herauszufinden: Welche Beziehung haben sie zu ihrer Musik?“, berichtet die Sängerin, die inzwischen mit dem Gedanken spielt, für eine Zeit in die USA zu ziehen. Doch auch in den Staaten musste sie wie einst in Paris erst einmal einen Kulturschock verdauen.
Produzent Saft hatte ihr in Aussicht gestellt, gemeinsam mit seiner Frau einen Song für das Album zu schreiben. Als aber schon der letzte Aufnahmetag fast vorüber und das versprochene Lied immer noch nicht in Sicht war, hatte Youn Sun Nah mit dem Thema eigentlich schon abgeschlossen. „Plötzlich erschien Jamies Frau. Der Song ist fertig, sagte sie. Ich fragte: Wo sind die Noten? Gibt‘s nicht. Stattdessen reichte sie mir ihr iPhone. Ich hatte 20 Minuten Zeit, mir den Song anzuhören, dann nahmen wir ihn auf. Ein Versuch. Fertig. Irre!“, erinnert sich die Koreanerin, die daran gewohnt war, das Material für ihre Alben gründlich und sorgfältig vorzubereiten. „Die Amerikaner nehmen das total locker“, gibt sich Youn Sun Nah immer noch verblüfft, „das Verrückte war: Ich habe mich damit richtig gut gefühlt!“
Wird sie nun die erste Koreanerin sein, die sich in der amerikanischen Jazzszene einen Namen macht? „Nein“, sagt Youn Sun Nah, „ich bin da ziemlich realistisch. Ich werde keinen Erfolg haben.“ Wenn sie sich da mal nicht vertut. Etwas Ähnliches hatte die bescheidene Sängerin schließlich auch schon mal gedacht, bevor sie in Europa für Furore sorgte.

Neu erschienen:

She Moves On

Youn Sun Nah

ACT/Edel

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Youn Sun Nah wurde 1969 in Seoul als Tochter eines Dirigenten und einer klassischen Sängerin geboren. Nach ersten Erfolgen als Musicaldarstellerin (u. a. in der südkoreanischen Fassung von „Linie 1“) entschloss sich die Südkoreanerin mit 25, zum Studium nach Paris zu gehen. Nach Touren durch Frankreich und Asien nahm sie ein deutsches Label 2009 unter Vertrag. Ihre Aufnahmen „Same Girl“ und „Lento“ verkauften sich 150.000 Mal und brachten ihr Auszeichnungen wie den „Echo Jazz“, den „Académie du Jazz“ in Frankreich oder den „Korean Music Award“ ein. „She Moves On“, das in den USA mit ausschließlich amerikanischen Musikern eingespielt wurde, ist ihr neuntes Album.

Josef Engels, 27.05.2017, RONDO Ausgabe 3 / 2017



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