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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Palestrina: „Missa Papae Marcelli“

Palestrinas Grab im Petersdom trägt die Inschrift „ Musicae princeps“ – Fürst der Musik. Der Stil seiner „Missa Papae Marcelli“ wurde zum Vorbild für 300 Jahre katholischer Vokalmusik.

Liturgie hat im Abendland atemberaubende Entwicklungen durchgemacht: Ein weiter Weg war es von den einstimmigen gregorianischen Choralgesängen des ersten Jahrtausends bis zu den komplexen vielstimmigen Partituren mit ihren Kanon-Künsten, die vom 14. bis 16. Jahrhundert ihre große Zeit hatten. Folgten einstmals die Sänger einer kleinen Schola mit ihren einstimmigen Melodien ganz intensiv dem Duktus und dem Aussagegehalt der biblischen Verse, so musste die Gottgefälligkeit (und damit die Liturgiewürdigkeit) der polyphonen Musik über die Kunstfülle des musikalischen Satzes definiert werden, mit dem der begnadete Komponist quasi dem Schöpfungswerk seines Gottes zu dessen Lob nacheiferte.

Palestrina gibt dem Text seine Verständlichkeit zurück

Die unmittelbare Verständlichkeit des Textes blieb, je komplizierter der Satz wurde, mehr und mehr auf der Strecke. Während des Konzils zu Trient (1545–1563) scheint es tatsächlich ernsthafte Bestrebungen gegeben zu haben, zur einstimmigen, gregorianischen Gottesdienstmusik zurückzukehren.
Dass Giovanni Pierluigi da Palestrina in dieser kritischen Situation tatsächlich die mehrstimmige Kirchenmusik gerettet hat, indem er mit der sechsstimmigen „Missa Papae Marcelli“ dem Konzil ein überwältigend reines und würdevolles, durch seine Satzstruktur die Textverständlichkeit stark begünstigendes Werk vorlegte, ist wohl eine Legende: Die homophonen Tendenzen, die die textreichen Sätze („Gloria“ und „Credo“) zeigen, lagen damals ohnehin allgemein in der Luft – Palestrina hat sie nicht fürs Konzil „erfunden“. Die restlichen Sätze sind polyphon wie eh und je, und im „Agnus Dei“ gibt es sogar die traditionellen Kanon- Künste der Alten Meister. Die Qualität des Werkes ist dennoch unbestritten.

Die Tallis Scholars – bei Vokalpolyphonie ein sicherer Tipp

Wie orientiert man sich in der Vielfalt von immerhin zehn lieferbaren Aufnahmen? Eine gute Wahl trifft stets, wer sich bei einem vokalpolyphonen Stück wie der „Missa Papae Marcelli“ für die Tallis Scholars, jenem 1973 von Peter Phillips gegründeten und seither geleiteten englischen Profi- Vokalensemble, entscheidet. Die „Papae Marcelli“ hat Phillips zweimal aufgenommen: 1980 als CDProduktion, 1994 dann noch einmal live in Rom in der Basilika Santa Maria Maggiore. Die römische Version ist auf DVD erhältlich, und gerade der visuelle Aspekt ist eine Bereicherung: Es fasziniert ungemein, zu beobachten, mit welcher gesangstechnischen Souveränität erfahrene Ensemblesänger wie Ruth Holton, Tessa Bonner oder Robert Johnston jene vibratofreien und dennoch nicht leblosen Töne produzieren, die zu einem ruhigen, sauberen, flexiblen und bei Bedarf durchaus satten Gesamtklang führen. 1994 und 1980 arbeitete Phillips jeweils mit zwölf Sängern, aber die Besetzungen sind de facto fast vollkommen unterschiedlich. Wir geben der 1994er Produktion den Vorzug, weil sie im direkten Vergleich homogener und lebendiger daherkommt.
Von ähnlicher Qualität ist die etwas größer (drei Sänger pro Stimme) besetzte Einspielung des Niederländischen Kammerchors (2010 unter Risto Joost). „Global Players“ der avancierten Ensembleszene wie Barbara Borden (Sopran) oder Donald Bentvelsen (Bass) garantieren ein großartig dichtes und gleichzeitig strukturell durchsichtiges Klangbild, das vor allem im „Unterbau“ der Männerstimmen ein wenig wärmer ausfällt als der kristallene Sound der „Tallis Scholars“.
Gleichfalls als sehr gelungen darf man die Einspielung des ensemble officium (2004, unter Wilfried Rombach) bezeichnen: Ebenfalls mit drei Profis pro Stimme erzeugt diese Gruppe einen tendenziell noch wärmeren, edel abgerundeten, im Diskant dunkel leuchtenden Klang, der (ähnlich wie bei den oben genannten Einspielungen) auch auf dynamischer Ebene sehr flexibel die inneren Spannungsbögen der Musik mitvollzieht.
Wiederum deutlich „englischer“ (will sagen: vor allem im Diskant obertonreicher, im Gesamtduktus tendenziell objektiver) klingt die 1991 entstandene Version der Oxford Camerata unter Jeremy Summerly, welche gewöhnlich mit zwölf ausgebildeten Sängern operiert. Hier gibt es Passagen von geradezu überirdischem, vollkommen entspanntem Schönklang; das Bass- Fundament hätte indes ein wenig kräftiger ausfallen dürfen.
Eine qualitativ beachtliche, interpretatorisch differenziert durchgestaltete Aufnahme verwirklichte 2009 das Ensemble Opus Vocale unter Volker Hedtfeld mit einer Besetzungsstärke von etwas über zwanzig Frauen und Männern. Das Timbre ist allerdings körniger und wattiger als dasjenige der zuvor genannten Ensembles, weshalb der Hörer nicht so rückhaltlos ins Geschehen hineingetaucht oder -gezogen wird wie bei den Spitzenversionen.
In reiner Männerbesetzung – und dafür deutlich nach unten transponiert – sang Pro Cantione Antiqua das Stück vermutlich Ende der 70er Jahre (Datumsangabe fehlt) unter Mark Brown. Das „All- Star-Ensemble“ u. a. mit Charles Brett, Michael George und Gordon Jones gewährt Einblick in eine frühe Phase des professionellen Ensemblegesangs, in der man noch mit mehr Vibrato und einem größeren Ausmaß an persönlicher Bewegtheit agierte. Das Ergebnis ist entsprechend unruhiger und subjektiver, es entsteht nicht die berückende Klarheit, mit der jüngere Produktionen punkten – interessant ist diese Version daher vor allem im Vergleich mit anderen.
Den Original-Klang „Knaben plus Männer“ liefern zwei berühmte britische und ein traditionsreicher deutscher Knabenchor: Georg Ratzingers Einspielung mit den Regensburger Domspatzen (1985) ist leider die am wenigsten zu empfehlende, weil sie besonders im Diskant in Sachen Intonation und klangliche Homogenität deutlich abfällt gegen die Aufnahmen des Choir of Westminster Abbey (1985 unter Simon Preston) und des Choir of Westminster Cathedral (1987 unter David Hill). Die Knabenstimmen der katholischen Londoner Kathedrale dominieren mit ihrem prägnanten, faszinierend fokussierten Sound das gesamte sechsstimmige Geschehen fast ein wenig wie eine Cantus-firmus- Stimme, was freilich nicht im Sinne der Sache ist. Die anglikanischen Kollegen unter Preston formen dagegen gemeinsam mit dem Unterstimmensatz ein überzeugender ineinander verzahntes Gesamt-Klangbild; unter diesem Gesichtspunkt ist die Produktion der „Westminster Abbey“-Knaben die kompetenteste Knaben-Version der „Missa Papae Marcelli“.

Fürs Himmelreich:

The Tallis Scholars Live in Rome, Peter Phillips

Gimelli

Niederländischer Kammerchor, Risto Joost

Globe

The Tallis Scholars (Studioversion), Peter Phillips

Gimelli

ensemble officium, Wilfried Rombach

Christophorus

Oxford Camerata, Jeremy Summerly

Naxos

Choir of Westminster Abbey, Simon Preston

Archiv-Produktion

Für die Kirchenbank:

Opus Vocale, Volker Hedtfeld

Rondeau

The Choir of Westminster Cathedral, David Hill

Hyperion

Für den Beichtstuhl:

Pro Cantione Antiqua, Mark Brown

Brilliant Classics

Regensburger Domspatzen, Georg Ratzinger

DHM

Michael Wersin, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 5 / 2012



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