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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Nikolaj Lund

Blind gehört

Antonello Manacorda: „Nicht alt, nicht neu, es könnte Muti sein!“

Antonello Manacorda, geboren 1970 in Turin, war 1997 Mitbegründer und (auf Wunsch von Claudio Abbado) jahrelanger 1. Konzertmeister des Mahler Chamber Orchestra sowie seit 2003 des Lucerne Festival Orchestra. Schon 2001 entschloss sich Manacorda, auf eine Karriere als Dirigent umzusatteln. Er studierte bei dem finnischen Dirigier-Guru Jorma Panula. Seit 2010 leitet er überaus erfolgreich die Kammerakademie Potsdam, mit der er einen kompletten Zyklus der Schubert-Sinfonien eingespielt hat. Manacorda lebt in Berlin.

Sehr schnell, finde ich. Ein großes Orchester. Es gibt, wie mir auffällt, erstaunlich wenige Aufnahmen der „Italienischen“ von Mendelssohn. Hat John Eliot Gardiner das eingespielt? Zu dumm, dass ich mich nicht genug damit beschäftigt habe, weil ich das Werk selber aufgenommen habe. Masur ist es nicht. Es gefällt mir nicht. Ich bin zwar selber eher dafür bekannt, rasche Tempi anzuschlagen, aber hier finde ich das nicht nötig. Mir fehlt die ‚dritte Dimension’. – Was, das ist George Szell!? Wie schade! Den liebe ich nämlich sehr, besonders seinen Schumann und Beethoven. Interessant ist, dass man in Amerika zu jener Zeit, also auch bei Toscanini, schon fast jene Tempi wählte, für welche die historische Aufführungspraxis später berühmt wurde. Auch bei Mengelberg gibt es eine ganz erstaunliche Freiheit in der Tempo- Wahl. Das Cleveland Orchestra, das Szell dirigiert, war damals ein sehr brillantes Orchester, aber hier atmet es nicht genug. Freilich eine Pionierleistung.

Felix Mendelssohn-Bartholdy

Sinfonie Nr. 4 „Italienische“

Cleveland Orchestra, George Szell

Sony

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Furtwängler ist da nicht, aber es ist so schnell wie bei Furtwängler. Kein deutsches Orchester! Das Blech könnte österreichisch sein. Auch hier fehlt mir die dritte Dimension: eine ‚Tiefe des Klanges’. Damit meine ich, dass der Klang nicht einfach anfängt und aufhört, sondern eine Form und eine Rundung bekommt, selbst beim Sforzando. In dieser Aufnahme wird sehr muskulös, sportlich und wiederum sehr schnell gespielt. Ich mag es nicht. Man fasst es zu sehr als Virtuosenstück auf. Es könnte Pierre Boulez sein, wenn er Schuberts Neunte aufgenommen hätte. Es ‚raunt’ nicht. René Leibowitz? Ein Schönberg-Schüler, also war ich gar nicht so weit entfernt. Mir fehlt das Ominöse, das man in Deutschland dagegen beinahe instinktiv erzielen kann.

Franz Schubert

Sinfonie Nr. 9

Royal Philharmonic Orchestra, René Leibowitz

Menuet

Das ist Magdalena Kožená – mit uns! Marc Minkowski dirigiert. Das ist immer noch ganz in meiner Haut drin. Es war die erste Aufnahme, bei der es um Stücke ging, die jünger waren als die Barockzeit. Ich erinnere mich, wie sehr wir es damals genossen haben. Erst recht mit dieser sehr besonderen Sängerin. Sehr eigentümlich. Sehr sexy. Sie hat ein eher schnelles Vibrato und spricht sehr gut Französisch. Es war ein wichtiges Album für sie und auch ein sehr gutes. Eines der letzten, bei denen ich als Konzertmeister mitgespielt habe. Das absolut letzte war dann Claudios „Zauberflöte“. Zum Lucerne Festival Orchestra, dessen Kerntruppe das Mahler Chamber Orchestra bildet, bin ich allerdings später noch oft zurückgekehrt.

Jacques Offenbach

„Ô rêve de joie …“ aus: „Les contes d’Hoffmann“

Magdalena Kožená, Mahler Chamber Orchestra, Marc Minkowski

DG/Universal

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Nicht zu langsam, das ist gut. Also kann es nicht Celibidache sein. – Toll! Das mag ich sehr. Klingt nicht österreichisch. Es ist nicht Abbado. Mit ihm habe ich viel Bruckner gemacht, da könnte es sich also höchstens um eine frühere Aufnahme von ihm handeln. Bei Abbado waren Bruckner-Sinfonien wie eine Kathedrale – eigentlich ähnlich wie bei Celibidache, nur aus Glas. Transparenter. Ich mochte sehr, dass Abbado von Schubert her auf Bruckner blickte. Ich selber habe Schwierigkeiten, Bruckners Werke zu dirigieren, eben weil ich zu einer ähnlichen Sichtweise neige. Was, das ist doch Abbado? Später Abbado?! Das hätte ich nicht gedacht. Er wurde mit den Jahren langsamer. Bei der Eroica sogar zu sehr. Meine Theorie, warum das häufiger zu beobachten ist bei Dirigenten im fortgeschrittenen Alter, hängt mit dem Herzschlag zusammen. Er wird langsamer mit den Jahren. Die ersten Jahre, nachdem Abbado zurückkam nach seiner Krebs- Erkrankung, waren wunderbar, das muss ich sagen. Eine Frische ging von ihm aus, unglaublich.

Anton Bruckner

Sinfonie Nr. 9

Festivalorchester Luzern, Claudio Abbado

DG/Universal

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Hören Sie sich diese Triolen an! Die „Otello“- Ouvertüre muss komisch sein, sie hat wenig mit der nachfolgenden Oper zu tun. Außer: die Triolen, und dann Pam-Pam-Pam. Das ist hier ein bisschen zu weich. Nicht alt, nicht neu, es könnte Muti sein. – Neville Marriner? Ach was, den mag ich natürlich sehr. Wir haben viel mit ihm gemeinsam gemacht – und mit Lady Molly. Ein Schatz! Drei Mal sind wir sogar mit ihm auf Tour gegangen. Alles klang bei ihm durchgearbeitet, virtuos und trotzdem transparent. Es war eine Freude, mit ihm zu musizieren. Und wer hatte ihn uns wohl empfohlen? Abbado, der ihn sehr geschätzt hat wegen seiner Kammerorchesterarbeit. Marriners Sohn war einmal Klarinettist beim London Symphony Orchestra gewesen, als Abbado dort Chefdirigent war. Man spielte gut für Marriner, um ein Lächeln von ihm zu bekommen. Er war einer der angenehmsten Dirigenten, die ich überhaupt kennengelernt habe.

Gioachino Rossini

Ouvertüre zu „Otello“

Academy of St Martin in the Fields, Sir Neville Marriner

Philips/Universal

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Was soll ich Ihnen sagen: wieder zu langsam! Sie merken, ich mäkele immer, wie die meisten Dirigenten, an den Tempi herum. – An den Bläsern, die sehr direkt, aber nicht ganz so rund klingen, kann ich erkennen, dass es sich um eine alte Aufnahme handeln muss. So langsam, ehrlich gesagt, kann nur Klemperer sein. Er war ein Freund von Mahler, genau wie Bruno Walter, aber bei dieser Sinfonie kommen beide, glaube ich, auf zwölf Minuten Unterschied in der Dauer – so anders sind sie in ihren Tempi. Wahrscheinlich war Klemperer mir einfach zu diktatorisch. Bei Toscanini ist das anders, bei Erich Kleiber auch. Denn bei ihnen merkte man ein Vorausschauen und Vorhersehen, wo die Musik hingehen wird. Fast eine Vision der Zukunft. Die Vierte ist übrigens die einzige Mahler-Sinfonie, die ich mit der Kammerakademie Potsdam aufführen kann. Wenn ich genug Musiker hinzu engagiere.

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 4

New Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer

EMI

Das ist jedenfalls nicht Klemperer. Es ist schön. Warum? Weil es eine Richtung hat. Nicht super schnell. Aber es klingt sehr informiert. Das könnte Gardiner sein, und dann wäre es meine Lieblingsaufnahme. Aber die ist es nicht, denn bei ihm klingen die Streicher anders. Für Paavo Järvi ist es zu groß besetzt. Es könnte eine Live-Aufnahme mit Abbado sein. Für David Zinman halte ich es für zu musikalisch. Oder vielleicht Rattle mit den Wiener Philharmonikern? Mit den Berlinern!? Nicht übel. Ich hatte die Aufnahme noch nicht gehört. Gute Sache.

Ludwig van Beethoven

Sinfonie Nr. 1

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle

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Das ist genau das, was ich mit der dritten Dimension vorhin meinte: Das Tempo ist so gewählt, dass man die Harmoniewechsel zu spüren bekommt und zugleich einen schönen, runden Klavierklang hat. So würde Martha Argerich vorgehen. Zum Bersten gespannt, aber es kommt doch ein schöner, toller Ton! Das könnte sie sein. Sehr virtuos. Wir haben viel mit ihr gearbeitet. Der Frau würde ich alles verzeihen. Sie schafft es, noch aus einer Zitrone Sirup herauszuholen. Sie selber denkt natürlich, dass alles Mist ist, was sie macht. Martha Argerich ist immer total verzweifelt. Als wir zwei der Beethoven- Konzerte mit ihr aufgenommen haben, hat sie sich ohne Ende gequält. Sie fühlte sich unwohl, weil sie die Werke nicht oft gespielt hatte. So wie sie interpretiert, merkt man bisweilen den Einfluss von Arturo Benedetti Michelangeli, den meine Landsleute, die Italiener, früher überhaupt nicht ertragen konnten. Sie dachten, er sei zu kalt. Als ein Uronkel von mir noch Botschafter in Washington war, habe ich dort Rubinstein, Horowitz und auch Bernstein noch persönlich kennengelernt. Sie repräsentierten die Freiheit pur. Und waren, nebenbei gesagt, ganz reizende Leute. Bei Michelangeli dagegen war alles ein Psychodrama – so wie bei Martha. Ich gestehe, dass ich selber sozusagen mit der Psychose lebe, ein Italiener zu sein. Ich kann Puccini nicht vertragen und sage so oft „Nein“ wie möglich zu italienischem Repertoire. „Bohème“, das sehe ich ein, ist ein Meisterwerk. Aber „Tosca“? Das dirigiere ich auf keinen Fall.

Frédéric Chopin

Sonate Nr. 2

Martha Argerich

DG/Universal

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Felix Mendelssohn-Bartholdy

Sinfonien Nr. 1 & 4 „Italienische“

Antonello Manacorda, Kammerakademie Potsdam

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Robert Fraunholzer, 24.12.2016, RONDO Ausgabe 6 / 2016



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