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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Gellinger/Pixabay

Weihnachten

Reformation, now!

An der musikalischen Begleitung des Baumschmückens können Familien zerbrechen. Besser, Sie lassen sich von uns beraten.

Musste man vor Jahr und Tag um diese Zeit noch die Papageien von den verdorrten Zweigen scheuchen, um im T-Shirt seine Discounter-Lichterkette um die Gartentanne zu schlingen, so herrscht dieses Jahr – gottseidank – bereits im November knackig-klare Kälte. Das schürt die Hoffnung auf ein Weihnachtsfest, das zumindest klimatologisch jene klare Kante fährt, die politisch gerade so lautstark gefragt ist. Ein Weihnachten der plätzchenausstecher- präzisen Wertvorstellungen also, mit sattem, christlich-abendländischem Basston? Da käme ein Reformationsjubiläum wie gerufen, doch leider ist das erst 2017 – noch viel zu lang hin. Ach was, wir ziehen das Ganze aus aktuellem Anlass schon mal ein Jahr vor.
Könnte man jedenfalls denken, wenn man sich, bei einer heißen Tasse Tee, durch die neuen Weihnachts-Alben hört: So viel Luther war nie, auch wenn wir ihm mit „Vom Himmel hoch“ eine der zündendsten Melodien zum Fest verdanken. Die Hamburger Ratsmusik erinnert uns erfreulicher Weise nochmal an das herbe, klare Klangbild von Luthers Weihnachtsliedern. Die meisten kennen wir nur noch als ein fernes Echo, dafür aber viel sinnlicher besetzt in den Kompositionen, die Praetorius, Schütz und Bach mehr als hundert Jahre später zur Lutherischen Weyhnacht beisteuerten (und die die gleichnamige Box in durchweg hervorragenden Aufnahmen der Archiv- Produktion neu versammelt). Nun hat man heute mehrere Möglichkeiten der klanglichen Aufbereitung: So führen die ehrwürdigen (nur etwas überprononcierenden) Thomaner und das Leipziger Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly Klassiker wie Bachs Weihnachtsoratoriums- Pauken und Praetorius „Es ist ein Ros entsprungen“ an Weihnachten in Leipzig mit ordentlich Pfeffer, aber doch auch altdeutschem Goldglanz auf. Der Staats- und Domchor Berlin hat sich mit der Lautten Compagney lieber eine stilistisch mobile Begleitung engagiert. Gemeinsam lässt man für Weihnachten aus dem Berliner Dom die protestantischen Choräle von Praetorius, Eccard und Walter, und erstmals auch das Magnificat des Berliner Kantors Johann Crüger, in der für das 17. Jahrhundert typische instrumentale Vielfarbigkeit schillern. Das ist ästhetisch älter, klingt aber deutlich moderner – und sehr lebendig.
Ein Blick zu den Nachbarn: Wer es tänzerischer sucht als beim gesamtdeutsch vorweggenommenen Lutherschock, der sollte sich ruhig von François Lazarevitch zu einer französischen Barockweihnacht entführen lassen – unser Geheimtipp 2016 für erfrischtes Hören! Die jungen Stimmen der Maitrise de Radio France machen Laune, ergänzt um volksmusikalische Instrumente wie Musette, Tambourin und Flöte. Und die Melodien sind auch noch nicht so abgenudelt. Und Italien? Endlich einmal wurden die barocken Christmas Concertos von Corelli, Valentini und Locatelli nicht mehr von Archivbändern reanimiert, sondern von einem satisfaktionsfähigen Barockensemble neu gesichtet: Die Capella Gabetta lässt die Pastoralen im Lauten-Pizzicato funkeln und hat auch gleich noch ein paar Neuentdeckungen draufgelegt. Kann es dann noch schöneres geben, als den Silberglockenglanz des Tschaikowski- Nussknackers, stilecht serviert vom besten russischen Ballettorchester unter Valery Gergiev?

Die eigene Liga der Briten

In eigener Liga, und nicht erst seit diesem Jahr, spielen musikalisch mal wieder die Briten. Aber zugegeben: Wer über eine solch superbe, vibratoentschlackt lupenreine Chortradition an den Colleges verfügt, der kann damit auch prunken. Die Tradition der englischen „Lessons & Carols“ wird inzwischen auch in Deutschland aufgegriffen (Neuer Knabenchor Hamburg, mit Rufus Beck als Vorleser). Bei den Colleges kann man fast nicht danebengreifen. Stilsicher und mit allen Evergreens des Repertoires wartet der Choir of St. John’s College Cambridge auf. In professionelle Höhen entrückt vereinen The Sixteen auf „Song of the Nativity“ Klassiker und zeitgenössische CaGewandrols zu einem spannenden Kaleidoskop. Die Brücke zum arrangierten Männerensemble acapella schlagen die Ehemaligen vom King’s College, die King’s Men – getoppt von den Altmeistern, den King’s Singers, deren Christmas Songbook dem „Winter Wonderland“ schon mal eine tropische Rumba spendiert (beide näher auf S. 45/46).
Und sonst? Beim Festlichen Adventskonzert an der Dresdner Frauenkirche wird bei Weber, Humperdinck und Reger wieder mit Puderzucker der fehlende Schnee wettgemacht. Die Sächsische Staatskapelle spielt die Bach-WO-Pauken hier übrigens fast im halben Tempo wie die Leipziger Kollegen – vielleicht ist also was dran an der „Elb-Sünde“ Dresdner Gemütlichkeit (mehr davon am 4.12. im ZDF beim diesjährigen Adventskonzert). Und wo sowieso schon der Kalorienbegrenzer durchgeschmort ist: eine herrliche, knallbunte Weihnachts- Überraschungstüte hat der Chor des Bayerischen Rundfunks mit gepackt - „Christmas Surprises“. „Oh, du fröhliche“ mit Sopran- Summchor, jauchzende Violinen, Schlittenglöckchen und überhaupt einem seelenvoll wogenden Münchner Rundfunkorchester. Arrangeur und Leiter Howard Arman hätte sich für diesen Klangzauber zu Recht verdient, dass ein Weihnachtsstern da oben nach ihm benannt wird. Kammermusikalischer (und leider viel süßlicher, weil über weite Strecken ironiefrei) ist „Ein Wintermärchen“ des Max-Raabe- Arrangeurs Christoph Israel geraten. Ein bißchen Cembalo, ein bißchen Klarinettenschmacht, ein bißchen Elektro – und ab und an mal ein bekannter Sänger. Verblüffend: Zum ersten Mal wirkt die Abgeklärtheit Max Raabes (der mit „Vom Himmel hoch“ schon mal ein Knaller-Weihnachtsalbum gelandet hat) einfach nur – gelangweilt.
Und dann, wenn der Rausch vorbei ist, es nach dem Wachs der erloschenen Kerzen riecht und die Sakkos über der Stuhllehne hängen? Dann ist es Zeit für Nils Landgrens „Christmas With My Friends“ und einen Whisky. Dass der Schwede inzwischen bei Vol. 5 angekommen ist, zeigt, wie schier unerschöpflich das Weihnachtsliederrepertoire ist. Und irgendwer wird uns auch nächstes Jahr wieder damit überraschen können, versprochen.

Glaubwürdiges:

Johann Sebastian Bach, Heinrich Schütz, Michael Praetorius

Lutherische Weyhnacht

DG/Universal

Luthers Weihnachtslieder

Hamburger Ratsmusik, Eckert

Carus/Note 1

Weihnachten aus dem Berliner Dom

Lautten Compagney, Staats- und Domchor Berlin

Sony

Weihnachten in Leipzig

Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester, Georg Christoph Biller, Riccardo Chailly

DG/Universal

Noël Baroque

François Lazarevitch

Alpha/Note 1

Vertrautes:

Peter Iljitsch Tschaikowski

Nussknacker

Valéry Gergiev, Orchester des Mariinski Theaters

Mariinsky/Note 1

Christmas Concertos

Cappella Gabetta, Andrés Gabetta

dhm/Sony

Inselbegabungen:

A Festival Of Nine Lessons and Carols

Neuer Knabenchor Hamburg, Beck, Bauditz

Rondeau

Adeste Fideles

Her Majesty’s Chapel Royal

Signum/Note 1

On Christmas Night

Choir of Magdalen College Oxford

Opus Arte/Naxos

Song Of The Nativity

The Sixteen, Harry Christophers

Coro/Note 1

Twelve Days Of Christmas

The King’s Men, London Symphony Orchestra

Live/Note 1

Christmas Songbook

The King’s Singers

Signum/Note 1

Christmas with St. John’s

Signum/Note 1

Anheimelndes:

Festliches Adventskonzert aus der Frauenkirche

Sonya Yoncheva, Luca Pisaroni, Sächsische Staatskapelle Dresden, Donald Runnicles

Sony

Christmas Surprises

Chor des BR, Münchner Rundfunkorchester, Howard Arman

Sony

Christoph Israel

Ein Wintermärchen – feat. Raabe

Katharina Thalbach, Thomas Quasthoff u.a.

DG/Universal

Christmas With My Friends Vol. V

Nils Landgren

ACT/Edel

Carsten Hinrichs, 03.12.2016, RONDO Ausgabe 6 / 2016



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