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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Marco Borggreve/DG

Andris Nelsons

Kein Sieg

Nelsons probt in der Philharmonie von Luxembourg Mahlers Siebte: Ein Gespräch über seinen Schostakowitsch-Zyklus, Politik und Probentechnik.

RONDO: Warum haben Sie sich bei Schostakowitsch für Live-Mitschnitte entschieden?

Andris Nelsons: Ein Live-Mitschnitt mit Publikum ist intensiver, spannender und einfach viel lebendiger. Natürlich ist auch eine Studio-Aufnahme interessant. Aber das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Live-Mitschnitte sind attraktiver denn je, weil die Technik heute viel mehr kann.

RONDO: Der Untertitel der ersten CD lautet: „Im Schatten von Stalin“ – gilt diese programmatische Ansage für den gesamten Zyklus?

Nelsons: Schostakowitsch hatte eine fatale Beziehung zu Stalin, seine ganze Karriere war bestimmt davon: Der mörderische Despot und der empfindsame Komponist, das ist das Spannungsfeld. Aber insgesamt ist die Sache noch komplizierter, denn Schostakowitsch war ja trotz allem Patriot! Er war zwischenzeitlich als Komponist verboten und wurde vom System fast zerstört. Physisch, psychisch und künstlerisch. Er hätte Filmkomponist werden können in den USA, er war ja auch auf diesem Feld genial. Aber er blieb.

RONDO: Viele haben den letzten Satz der 5. Sinfonie als zynischen Kommentar zum Stalinismus verstanden. Ist es wirklich „erzwungener Jubel“?

Nelsons: Alle Schostakowitsch-Sinfonien sind eng verbunden mit ihrer Zeit – aber trotzdem höre ich auch eine starke Unabhängigkeit. Meine ersten Schostakowitsch-Studien in der Zeit des Sowjet-Systems lehrten mich, dass die Fünfte den Kommunismus feiert! Und dann kam der Kollaps der Sowjetunion, und das Gegenteil wurde behauptet. Natürlich kann man nicht sagen, dass diese Sinfonie nicht von den politischen Verhältnissen handelt! Ich denke, es gibt einen starken Subtext, aber dieser Subtext ist intimer und sehr viel persönlicher, als gern beschrieben wird. Die Menschen bei der Uraufführung waren ja außer sich. Weil die Musik so stark ist. Aber was hörten sie? Den Sieg des Kommunismus, den Helden, der scheitert, die Zweifel, die Lösung, den Sieg? Es ist ein sehr starker Schlusspunkt. Aber kein Sieg!

RONDO: Es taucht immer wieder die Frage auf, in welchem Tempo der letzte Satz gespielt werden muss?

Nelsons: Schostakowitsch hat uns keine klare Antwort hinterlassen, er hat eher ausweichend reagiert. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass der Wille zum Überleben hörbar wird, trotz aller Verzweiflung. Aber nicht pompös!

RONDO: In Ihrem ersten Musikerleben waren Sie Trompeter. Wie wichtig ist das heute für das Verständnis des Orchesters?

Nelsons: Man lernt als Musiker zu erkennen, wie sich ein guter Dirigent anfühlt. Obwohl man letztlich nicht erklären kann, wie es wirklich funktioniert, es bleibt ein Mysterium. Ich habe aber als Trompeter mit 22 Jahren ganz radikal aufgehört. 15 Jahre lang habe ich keinen einzigen Ton gespielt. Und jetzt kommt’s! Früher war es immer mein Traum, bei dem großen Trompeter Håkan zu studieren. Als Dirigent hatte ich nun viele Auftritte mit ihm. Und diesen Sommer überraschte er mich und schenkte mir eine Trompete! Und jetzt übe ich wieder und habe die Trompete immer dabei! Natürlich habe ich meinen Ansatz verloren, aber praktiziere das Üben jetzt ein bisschen wie Yoga: die Konzentration auf den Atem, das Fließen lassen … Es erinnert mich auch daran, wie wichtig das Atmen beim Musizieren überhaupt ist.

RONDO: Ihr Dirigierstil wirkt sehr emotional und körperlich. Ist das spontan oder kalkuliert?

Nelsons: Es ist eine Kombination von allem. Spontaneität ist mir sehr wichtig. Wenn mich jemand fragt: Wie genau wird es im Konzert? Dann muss ich immer sagen: Ich weiß es nicht! Ich habe zwar einen Plan, aber von dem kann es immer abweichen! Andererseits können wir es uns damit nicht bequem machen und sagen: Lass’ uns gar nicht proben und nur spontan sein. Im Gegenteil: Je mehr und je besser man probiert an Details, desto besser kann man spontan sein. Die Musiker spielen ja von selbst, Spontaneität funktioniert aber nur, wenn es Vertrauen gibt.

RONDO: Welche Rolle spielt der Kopf?

Nelsons: (Zögert lange, versucht, den Prozess der Hervorbringung zu demonstrieren) Letztlich muss man dem Herzen folgen, von dort kommt der Impuls. Das schießt dann sofort in den Kopf, aber es kommt von hier – (zeigt aufs Herz). Ohne Kopf geht es aber auch nicht.

RONDO: Erklären Sie in den Proben oder demonstrieren Sie lieber?

Nelsons: Ein Dirigent sollte nicht zu viel reden, die Musiker mögen das nicht. Für Erklärungen muss man den richtigen Moment finden, wo es wirklich hilft und nicht stört. Es gibt zwei Sprachen: die technische Sprache, die genau diagnostiziert, was gerade passiert. Und die assoziative, fantasievolle Sprache. Manchmal kann auch ein Witz helfen! Manche wollen vielleicht hören, was Beethoven gefrühstückt hat, als er das und das schrieb. Aber das sind die wenigsten. Manchmal singe ich auch, um etwas zu markieren. Das ist der kürzeste Weg der Kommunikation. Nicht alles kann man erklären. Wie wollen Sie etwa Wagner erklären, wie soll das gehen?

RONDO: Als Fünfjähriger waren Sie geschockt von Ihrer ersten Begegnung mit Wagner und kriegten nach dem „Tannhäuser“ Fieber?

Nelsons: Ich wusste vorher nicht, dass Musik so überwältigend sein kann, so schmerzhaft! Mein Vater hatte versucht, mir alles zu erklären, und ich hatte sogar die Platte gehört. Und dann war es ganz anders. Ich kann nicht leben ohne diese narkotische Musik. Aber man kann sie nicht erklären.

Erscheint Ende Mai:

Dmitri Schostakowitsch

Sinfonien 5, 8 und 9

Boston Symphony Orchestra, Andris Nelsons

Deutsche Grammophon/Universal

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Zweites Standbein

Der Weg des lettischen Dirigenten Andris Nelsons führte über die Stationen Herford und Birmingham nach Boston. Dort ist er seit der Saison 2014/15 Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra und wird ab der Saison 2017/18 parallel dazu den ehrwürdigen Posten des Gewandhauskapellmeisters in Leipzig bekleiden. Im kommenden Sommer wird er bei den Bayreuther Festspielen die Neuproduktion des „Parsifal“ in der Regie von Uwe Eric Laufenberg dirigieren. In Zusammenarbeit mit dem Boston Symphony Orchestra erscheint ein Zyklus von Live-Mitschnitten von sämtlichen Schostakowitsch-Sinfonien.

Regine Müller, 23.04.2016, RONDO Ausgabe 2 / 2016



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