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N° 1354
20. - 29.04.2024

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am 27.04.2024



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(c) Barbara Aumüller

Russischer Dauerfrost: Michail Glinkas „Iwan Sussanin“

Oper, Frankfurt

„Iwan Sussanin“, diesen Gründungsmythos der russischen Oper, nannte man früher „Ein Leben für den Zaren“. Auf Michail Glinkas Debütwerk berufen sich alle russischen Komponisten ähnlich wie dies russische Schriftsteller in Bezug auf Puschkin tun. Dass der 1836 in Petersburg uraufgeführte Vierakter so selten gespielt wird, ist trotzdem kein Zufall. Denn das holpert noch ziemlich. Hinter dem fetten Schlachtengemälde verbirgt sich in Wirklichkeit ein Märtyrer-Kammerspiel für drei Personen. Von diesen rettet die Titelfigur, ein alter Bauer, dem Zaren durch Irreführung des Feindes das Leben. Ein Volksheld, totgeweiht.
Altmeister Harry Kupfer, der in Frankfurt seine Liebe zur russischen Oper neu entdeckt, verlegt die Handlung aus dem 17. Jahrhundert in die letzten Tage des II. Weltkriegs. Die Deutschen liegen vor Moskau – in der zweisprachig gesungenen Aufführung werden im Chor sogar „Sieg Heil!“-Rufe laut. Weil man sich nicht traute, deutsche Uniformen schneidern zu lassen, tapert der Feind in ahistorischen Kosmonautenanzügen durch den russischen Frost. Au backe!
John Tomlinson in der Titelrolle legt den Saboteur aus Vaterlandsliebe als eine Art russischen Hustinettenbär an. Fehlbesetzung! Trotz Katharina Magiera in der Nebenrolle des Wanja, Kateryna Kasper (Antonida), Anton Rositskiy (Sobinin) und Sebastian Weigle am Pult kann sich die Aufführung von der Fehlentscheidung nicht erholen, ein vermeintliches Nationalepos in ein Stück Kriegskritik zu verwandeln.
Denn merke: Wer die erfrierenden Polen, um die es sich in der Vorlage eigentlich handelt, in die deutsche Wehrmacht umdeutet, bei dem stehen am Ende, wenn in Moskau die Sieger aufmarschieren, triumphierende Stalinisten auf der Bühne. Sich auch zu diesen kritisch zu verhalten, dazu reicht die Unabhängigkeit des Regisseurs hier offenbar nicht aus. Ein selten gespieltes Stück; ein „Hoch!“ auf die Ausgrabungslust der Oper Frankfurt! Aber auf diese Weise – und so derb zusammengekürzt – möchte man es doch nicht sehen.

Robert Fraunholzer, 05.03.2016, RONDO Ausgabe 1 / 2016



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