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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Elias/Impresariat Simmenauer

Blind gehört -

Louis Lortie: „Warum müssen wir Bach spielen?“

Nach eigener Aussage kommt er kaum zum Musikhören. Tatsächlich aber nimmt er viele CDs auf, seit 30 Jahren fürs englische Label Chandos, und hat genaue Vorstellungen, wie ein Klavier klingen sollte. Louis Lortie, der regelmäßig zwischen seiner Heimatstadt Montreal, Italien und Berlin pendelt, gilt unter Kennern seit langem als einer der interessantesten Pianisten. Sein Repertoire spannt sich von Mozarts und Beethovens pianistischem Gesamtwerk über Chopin und Liszt bis ins 20. Jahrhundert. Mit Hélène Mercier bildet er außerdem ein festes Klavierduo. Von ARNT COBBERS

Unglaublich schön. Der Anschlag ist unglaublich. Tolle Phrasierung – wow! Und sehr frei, aber irgendwie noch im Rahmen. Steht nicht „gesangvoll“ am Anfang? Es singt die ganze Zeit. Das ist sicher eine sehr alte Aufnahme. Diese kleine Pause – toll! Vielleicht die beste Aufnahme vom op. 109, die ich jemals gehört habe! (Ende) Wow, wer ist das? Am Anfang habe ich wegen der Rubati an Schnabel gedacht. Aber es ist alles so sauber. Fast wie bei Michelangeli, aber mit viel Gesang und Wärme. Michelangeli ist es sicher nicht. Ich habe schon manches Überraschende von Myra Hess gehört. Bin ich nah dran? Ich bin ein Enkelschüler? Dann ist es doch Schnabel? Vom Klang her dachte ich sofort an ihn. Es heißt, dass Schnabel, als er jünger war, sehr deutlich und präzis gespielt hat. Allerdings stören mich falsche Noten gar nicht sehr. 1942? Da war er nicht mehr so jung. Ich wohne jetzt am Comer See und vor kurzem habe ich eine Frau getroffen, deren Tante Schnabel geholfen hat, die Grenze zur Schweiz zu überqueren. Als die Deutschen kamen, musste er fliehen. In Como gibt es noch eine Klavierakademie, die er gegründet hat. Mein Lehrer Leon Fleisher war dort, als er zehn war, glaube ich. Er hat oft von ihm erzählt, und ich habe damals ein Buch von Schnabel studiert, aber mit seinen rhythmischen Vorstellungen war ich eigentlich gar nicht einverstanden. Er hatte richtige Rezepte, was man machen soll bei bestimmten Passagen, ich fand das klischeehaft. Aber in dieser Aufnahme ist alles sehr frei.

Ludwig van Beethoven

Klaviersonate Nr. 30 E-Dur op. 109

Artur Schnabel (New York, 1942)

Naxos

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Es gibt Vibrato und es klingt altmodisch, wie aus den 60er oder 70er Jahren. Wenn das eine moderne Interpretation ist, ist der Dirigent wahrscheinlich nicht so modern. … Für mich ist es zwischen den Stühlen, weder im Geist von heute noch richtig altmodisch. Das stört mich, ich finde, man sollte sich entscheiden. (Das Klavier setzt ein) Das ist ein bisschen ‚pretty Mozart‘. Niedlich. Sehr gut gespielt, aber ich weiß immer, was im nächsten Takt passieren wird. Das ist überhaupt nicht mein Mozart. Ich finde auch den Anschlag im Moment des Anschlags sehr gut, aber dann spricht es nicht zwischen den Noten, das ist für mich sehr wichtig. Das Orchester ist irgendwie ohne Persönlichkeit. Das ist irgendein Kammerorchester, wahrscheinlich englisch. Der Pianist ist der Chefdirigent? Das passt. Es ist sehr gut gespielt, keine Frage. Aber es ist mir insgesamt zu glatt. Französischsprachige Schweiz? Da bin ich erstaunt. Christian Zacharias ist eigentlich ein wunderbarer Pianist und Musiker… Ich werde bald zum ersten Mal mit dem Orchester spielen, Beethoven. … Ich spiele das viel lieber allein als mit einem Dirigenten. Nur sehr selten findet man jemanden mit neuen Ideen. Kennen Sie Bernhard Klee? Ich habe mit ihm einmal in Bergen dieses Mozart-Konzert gespielt. Er hat 20 Minuten nur am ersten Tutti geprobt. Und das Orchester war wirklich böse, die dachten, beim Mozart-Konzert gibt’s zwei, drei Korrekturen, dann geht’s weiter. Er hat zum Beispiel erklärt, dass es nur in diesem Konzert einen ganzen Takt als Auftakt gibt, sonst ist es immer nur ein Schlag. Meine Damen und Herren, hat er gesagt, es muss wirken, als wäre es nur ein Schlag, ganz leicht. Das ist genau richtig, und er hat nur solche Sachen gesagt. Die Musiker haben die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich explodiere. Aber ich fand das toll! Ich habe da gesessen wie im Himmel, ich habe so viel gelernt. Dann haben wir den Rest des Satzes gespielt – und es war perfekt. Er hatte alles erklärt, jedes Thema, die Artikulation – alles. Und dann ging es wie von selbst, es war herrlich. Zwischendurch hat er sich zu mir umgedreht und gesagt: Die werden mich nie wieder einladen, aber das ist mir egal! Ist das nicht schön?! … Dass Dirigenten solche Impulse geben, ist sehr selten, die haben keine Zeit für ein Mozart-Klavierkonzert. … Ich dirigiere nur vom Klavier aus, und ganz selten mal im zweiten Teil ohne Instrument. Warum ich Zyklen spiele? Man versteht einen Komponisten besser. Früher war das ganz normal. Jemand wie Schnabel hat viel unterrichtet und spielte dann fünf Beethoven-Sonaten an einem Abend. Es war ihm egal, ob es Gedächtnislücken oder falsche Noten gab. Heute erwarten die Leute im Konzert dieselbe Qualität wie auf CD, sie wollen keine falschen Noten hören. Und deshalb bleiben viele meiner Kollegen bei einem Programm – das ist sicherer bei der vielen Fliegerei und den schlechten Klavieren. Viele geben auch viel zu viele Konzerte. Außerdem ist die Akustik oft nicht gut, die Klaviere sind nicht gut, vor allem die neuen sind sehr metallisch, das gefällt mir überhaupt nicht.

Wolfgang Amadeus Mozart

Klavierkonzert G-Dur KV 453

Christian Zacharias, Kammerorchester Lausanne

MDG/Naxos

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Oh! Sehr akademisch, um es freundlich auszudrücken. Und diese Wartezeit vor dem Sprung. Ei ei, das Tempo. Es gibt eine tolle Aufnahme mit Poulenc, bei der er viele falsche Noten spielt, aber musikalisch großartig. Das ist eine alte Aufnahme, oder? Das Stück muss lustig sein, aber das hier ist nicht lustig, es ist ohne Fantasie gespielt. Als wäre es sowjetische Musik, ein schlechter Schostakowitsch. Das ist kein eingespieltes Duo, da bin ich mir sicher! Immerseel? Das ist nicht sein Repertoire, ich schätze vieles von ihm, Mozart zum Beispiel. Und Anima Eterna sollen im 18. Jahrhundert bleiben! Auf Erard-Flügeln gespielt? Ich habe Poulenc sogar mal auf einem Pleyel-Flügel ausprobiert, das war sehr interessant. Warum soll man nicht auch diese Musik auf historischen Instrumenten spielen? Aber diese Interpretation ist langweilig.

Francis Poulenc

Konzert für zwei Klaviere d-Moll

Jos van Immerseel, Claire Chevallier, Anima Eterna Brugge

Zig-Zag Territoires/Note 1

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Die Mikrofone – was haben die da gemacht?! Das klingt so roh! Und der Flügel ist verstimmt! Das gibt es häufiger, leider. Bei der Deutschen Grammophon oder bei der EMI wäre das nicht passiert! Es klingt wie eine schlechte englische Aufnahme. Chandos ist es nicht – das ist nicht Angela Hewitt. Das ist vielleicht gut gespielt, aber der Flügel ist verstimmt, die Aufnahme ist nicht gut – was bleibt da? Es ist eine Parodie von Bach. Das könnte von Sony sein, die lieben diesen metallischen Klang! Ich habe einmal in Dresden für sie aufgenommen, und ich hatte nur Ärger mit dem Produzenten, das war überhaupt nicht mein Klang, das Mikro stand fast im Flügel. Ich spiele keinen Bach und ich hasse diese Busoni-Sachen. Auf dem Klavier muss man Entscheidungen treffen, die man bei dieser Musik nicht treffen kann. Dynamische Abstufungen, Pedal, Crescendi, Decrescendi – all das sollte es nicht geben. Der moderne Flügel bietet zu viele Möglichkeiten. Wir haben so viel Repertoire, warum müssen wir Bach spielen? Oder man muss es wie auf der Orgel spielen, wie Richter auf der Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers. Oder Kempff – der hat viel Orgel gespielt, das hört man sofort. Wurde das in New York aufgenommen? (Ja!) So klingen die Klaviere in Amerika! Auf solchen Flügeln müssen wir spielen! Bitte lassen Sie uns bei der nächsten CD ans Niveau von Schnabel anknüpfen.

Johann Sebastian Bach, Ferruccio Busoni

"Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ"

Murray Perahia

Sony

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Das ist so schnell, es gibt kein Mysterium. Das ist sehr pianistisch, ich höre das Orchester nicht, das immer im Hintergrund da sein sollte. Das ist auf Effekt gespielt, da fehlt mir der große Bogen. Die jungen Leute unterbrechen alles und machen viele kleine Events. Jeder Takt ein Event! Und hier ist es unnötig aufgeregt, wo es doch nobel sein soll. Aber es hat immerhin Schwung, es gibt Phrasierungen über mehrere Takte hinweg. Ich habe auch eine schlechte Aufnahme gemacht mit 26 oder 27. Ich hätte noch warten sollen, aber das wollte ich damals nicht. So jung ist der Pianist nicht? Vielleicht hätte er trotzdem noch warten sollen. Es ist jedenfalls kein Lang Lang oder Kissin. Berezovsky? Oh, das ist eigentlich auch ein Supermusiker. Das war vielleicht nicht sein Tag.

Franz Liszt

Klaviersonate h-Moll

Boris Berezovsky

Mirare/hm

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Nie gehört! Au, das Orchester. Ist das die Hyperion-Edition ‚Complete Romantic Concertos‘, Folge 150? Oder eine Naxos-CD mit einem slowenischen Pickup-Orchester? Die Musik ist nicht so interessant, und das Spiel auch nicht. Diese CD wird dem Stück nicht zum Durchbruch verhelfen. Diese Melodie hier stammt aus der zweiten Geigensonate von Brahms. Moszkowski, den kenne ich, klar, Horowitz hat ihn oft als Zugabe gespielt. Ich finde es toll, dass die Musiker damals zumindest versucht haben zu komponieren. Kennen Sie etwas von Bülow? Von ihm würde ich gern mal was hören. Das war ein deutsches Rundfunkorchester? Dann waren sie nicht vorbereitet. So klang das: Wir haben kein Geld und deshalb machen wir das Ganze in zwei Sitzungen.

Moritz Moszkowski

Klavierkonzert

Joseph Moog, Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Nicholas Milton

Onyx/Note 1

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Das kenne ich auch nicht. Der Klang ist irgendwie hart. Leider. Das ist nicht in einem Saal aufgenommen, sondern in einem kleinen Studio. Aber die Musik ist toll! Das ist etwas Slawisches. Ja, es hat was von Chopin, aber Chopin ist nie nur brillant. Also noch ein Pianist als Komponist. Tschaikowski? Seine Solo-Klaviermusik kenne ich kaum. Der Pianist spielt gut, auch wenn er kein Pletnev ist.

Peter Tschaikowski

"Un poco di Chopin"

Jonathan Plowright

Hyperion/Note 1

Neu erschienen:

Sergei Rachmaninow

Werke für zwei Klaviere, Fantaisie op. 5, Suite Nr. 2 u. a.

Louis Lortie, Hélène Mercier

Chandos/Note 1

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Neu erschienen:

Francis Poulenc

Werke für Klavier und Orchester, Konzert für zwei Klaviere und Orchester, Klavierkonzert, „Aubade“ u. a.

Louis Lortie, Hélène Mercier, BBC Philharmonic, Edward Gardner

Chandos/Note 1

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14.11.2015, RONDO Ausgabe 6 / 2015



Kommentare

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Rondomagazin 6/2015 @ Blind gehört: Louis Lortie Schon amüsant, wie Louis Lortie hier als Kritiker seiner Zunft etwas hochnäsig und provokant die Arbeit andrer Musikern beurteilt. Als langjähriger Beethoven Interpret bei Chandos sollte er jedenfalls die Schnabel Aufnahme von 1932, und nicht 42!, kennen und sich ob ihrer musikalischen Qualität nicht erst jetzt wundern. Ob Bach auf dem modernen Flügel gespielt werden kann, ist seit Arrau, Fischer, Gould, Gulda und Brendel längst kein Thema mehr, allenfalls eine seriöse Alternative, wenn auch eine die originäre Klanggestalt verfälschende. Und klangen Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und Chopin zu ihrer Zeit so wie auf heutigen Konzertflügeln? Lorties pauschal negativer Beurteilung von Sony-Klavier-Produktionen (metallisch klingende Steinways in N.Y.), kann ich allemal die künstlerisch wie klangtechnisch exzellenten Aufnahmen der Sony aus Berlin, Funkhaus Nalepastrasse, entgegenhalten: Perahias Bach und Volodos' Liszt haben jedenfalls bei mir einen tieferen musikalischen Eindruck hinterlassen, als Lorties Chandos-Produktionen von Beethoven, Chopin oder Liszt, die akzeptabel, jedoch keinesfalls überragend sind und oft sogar metallisch nach american Steinway klingen. MFG, gemihaus, Berlin


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