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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Blind gehört

Folkert Uhde

Vom Fernsehtechniker zum Festspielleiter. Was Uhde am besten kann: mit Ideen zur Tat schreiten.

Er war elf Jahre lang Manager und Dramaturg der Akademie für Alte Musik Berlin, war Partner einer Künstleragentur und gründete 2006 gemeinsam mit Jochen Sandig das RADIALSYSTEM V, den innovativen Konzert- und Veranstaltungsort in Berlin. Aus dem Tagesgeschäft hat sich Folkert Uhde nun zurückgezogen, um sich ganz aufs Entwickeln und Umsetzen neuer Programme und Konzeptionen zu konzentrieren. Seit diesem Jahr ist der 48-Jährige, der zuerst Radio- und Fernsehtechniker gelernt und dann Musikwissenschaft und Barockgeige studiert hat, künstlerischer Leiter der Internationalen Orgelwoche Nürnberg.

Ich kann diese Ouvertüre nicht hören, ohne das von Sasha Waltz erfundene Wasserbecken in meinem Kopf zu sehen und das Plätschern des Wassers zu hören. Das war ja meine erste Zusammenarbeit mit Sasha Waltz und Jochen Sandig … Interpreten-Raten ist mein Hobby, aber von Purcell gibt es so unglaublich viele Aufnahmen. Erstaunlicherweise wird nur bei relativ wenigen Ensembles die Idee eines eigenen Stils, eines eigenen Klanges, eines eigenen Umgangs mit dem Repertoire erkennbar. (Wir hören in mehrere Sätze hinein.) Hier kann ich nichts Spezifisches identifizieren. Ich denke, es sind englische Musiker, die Sänger sind jedenfalls Muttersprachler … Eine gute Aufnahme muss mich klanglich anspringen, ich muss in den ersten fünf Sekunden gebannt sein. Sie muss eine Mischung von sehr gutem Raumklang, der zum Repertoire passt, und klanglicher Plastizität sein. Der Rest ist Geschmack. Das hier reißt mich nicht vom Hocker. Es ist, „wie man das so macht“, es ist ok …
Ich war so lange der Akademie für Alte Musik Berlin als Bratscher und Manager verbunden, das prägt schon sehr. Überraschenderweise gibt es inzwischen eine ganze Reihe Aufnahmen, die mir bekannt vorkommen, die aber nicht von der Akademie sind. Bestimmte Aufnahmen waren stilbildend, auch generell die Art und Weise, mit Musik umzugehen, da ist manches kaum vom Original zu unterscheiden. Ich habe schon eine sehr präzise Vorstellung von vielen Stücken, aber ich lasse mich auch gern überraschen. Was ich allerdings nicht ertragen kann, sind Intonationsschwächen, vor allem, wenn ich merke, die Musiker haben das Intonationssystem nicht begriffen. Es gibt eine unglaubliche Standardisierung in der Alten Musik, dabei gibt es aus meiner Sicht noch viele offene Fragen, gerade was die Besetzungen angeht. Es gibt Musiker, die sich damit im Detail auseinandersetzen, dass man eine CorelliSonate nicht auf der gleichen Geige mit den gleichen Saiten spielen sollte wie eine BachSonate. Aber es gibt einen Mainstream, dass man zum Beispiel alles auf dem Stimmton 415 Hz spielt, was historisch Unsinn ist. Man meint vieles zu wissen, was man aber doch nicht weiß … Das ist Hervé Niquet? Den schätze ich sehr für französisches Repertoire. Ich finde, es müsste französischer klingen. Interessant, dass die Franzosen es sehr „englisch“ spielen.

Henry Purcell

Dido und Aeneas

Pudwell, Harvey, Le Concert Spirituel, Niquet

Glossa/Note 1

Das eine ist italienisch, 17. Jahrhundert, aber das andere kenne ich nicht. Was spielt da überhaupt, ein Zink und ein Marimbafon? (wir hören in andere Stücke – im Wechsel Merula und Glass – hinein) Das ist doch ein Saxofon. Ist das eine Erfindung der Firma Universal? Ah, „Timeless“ – die Platte habe ich nie gehört. Einige Leute werden sich das wegen Philip Glass gekauft haben und wurden dann mit Merula konfrontiert. Das hat seine Berechtigung. Meist finde ich den Mix der Instrumentarien problematisch. Merula muss mitteltönig gespielt werden, mit sehr tiefen Terzen. Das funktioniert aber nicht bei Philip Glass, da braucht es enharmonische Verwechslungen. Ich finde, man verliert beim Kompromiss zu viel vom Kern dieser Musik.

Philip Glass, Tarquinio Merula

Timeless

Lautten Compagney

dhm/Sony

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In Orgelmusik arbeite ich mich gerade intensiv ein, da kenne ich mich noch nicht gut aus – obwohl ich mit Orgelmusik groß geworden bin. Ich habe im Kirchenchor gesungen, und die Kantorin bei uns in Wilhelmshaven war eine herausragende Organistin und Improvisatorin. Die Internationale Orgelwoche Nürnberg ist ja längst ein Festival vor allem auch für geistliche Musik, der Orgelpart wird vom Orgelwettbewerb geprägt, der einen eigenen künstlerischen Leiter hat. Ist das Reubke? Ein tolles Stück. Und eine schöne Aufnahme, die spricht mich klanglich sofort an. Ich habe hobbymäßig in jungen Jahren viel Aufnahmeleitung gemacht und war später bei sehr vielen CD-Produktionen dabei, oft mit dem ehemaligen Cheftonmeister der VEB Deutsche Schallplatte, Eberhard Geiger. Der hat interpretatorisch viel Einfluss genommen, von ihm habe ich viel gelernt.

Julius Reubke

Der 94. Psalm

Christoph Schoener an der Ladegast-Orgel, Schwerin

Mitra

Das ist nett und hat seine Berechtigung, aber interessiert mich nicht. Auch zu Popsongs gehört ein bestimmter Klang. Wenn man sie für Streichquartett arrangiert, ist diese Aura, die manche Aufnahmen haben und die ich toll finde, verschwunden. Wenn Bands Klassik- und Jazzelemente in ihre Musik einweben und wenn da Neues entsteht, finde ich das interessant. Aber sogenanntes „Crossover“ finde ich fürchterlich.

Fiction

Quatuor Ebène

Virgin Classics/EMI

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Das ist das Trio Mediaeval, kein anderes Ensemble hat diesen Klang. Es gibt viele a-cappellaGruppen, die Beatles-Songs genauso singen wie Byrd-Motetten. Alles mit dem gleichen Klang, ohne Ecken und Kanten. Das finde ich furchtbar! Die Norwegerinnen singen unglaublich rein, es klingt wunderschön, aber es ist nicht glatt – diese Mischung finde ich faszinierend … Natürlich verstehen wir den Kontext eines solchen Stückes aus dem 13. Jahrhundert, das ja Teil einer Messe war, nicht mehr. Mir liegt schon daran, zu zeigen, worum es in dieser Musik inhaltlich geht. Darum habe ich auch für das Festival 2013 ein Thema, einen Fokus gesetzt: den Begriff der Gnade. Aber auch wenn wir nicht wirklich verstehen, worum es in der Musik geht – ich glaube, man kann, wenn man einer Stunde dieser Musik zugehört hat, eine gewisse Kraft mitnehmen in sein Alltagsleben. Das fasziniert mich an dieser Musik. Und das wünsche ich mir generell von einem guten Konzert. Wir machen diese Musik in Nürnberg in der Frauenkirche, der Raum hat die nötige Aura. Ich möchte das gar nicht in einem modernen Konzertsaal hören. Diese wunderbaren Kirchenräume in Nürnberg zu bespielen, Korrespondenzen herzustellen zwischen der Musik und der Architektur und dadurch das Publikum stärker zu berühren, reizt mich sehr.

A Worcester Ladymass

Trio Mediaeval

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Diese Musik fasziniert mich sehr. Die Tre canti sacri haben eine ganz eigene Aura durch diese eigenwillige Tonalität, und wenn das so gut gesungen wird wie hier, dann klingt es wie Glaskristall, so klar und plastisch und vielfältig. Das ist wahnsinnig schwer zu singen. Saugut! Und es ist nicht der RIAS Kammerchor, den würde ich erkennen … Früher war ich eine Art Alte-Musik-Nerd, aber inzwischen höre ich total unterschiedliche Sachen, auch viel Neue Musik. Ich bin immer weniger überzeugt von diesem Spartendenken. Ich mag keine reinen Alte- oder Neue-Musik-Festivals mehr. Ich finde, die Wirkung der einzelnen Stücke entfaltet sich viel mehr, wenn man sie kontrastiert – auf eine klangsinnliche Art und Weise. Ich finde es großartig, wenn es einen inhaltlichen roten Faden gibt, aber ein Konzert muss vor allem eine starke sinnliche Erfahrung sein. Eine Erfahrung, die hilft, den Alltag hinter sich zu lassen.

Giacinto Scelsi

Tre canti sacri

New London Chamber Choir, James Wood

Accord/Universal

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Arnt Cobbers, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2013



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