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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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Carl Nielsen als Kind (c) National Library of Denmark

Carl Nielsen

Dänen lügen nicht

Sein 150. Geburtstag soll dem dänischen Komponisten endlich den großen Durchbruch bringen. Hoffentlich!

Carl Nielsen? Ist das nicht der mit der „Unauslöschlichen“?! Richtig. Herbert von Karajan dirigierte gern Nielsens Sinfonie Nr. 4, die mit dem dänisch-originalen Beinamen „Det Uudslukkelige“. Man muss lachen, wenn man den Namen hört, aber der Titel ist gar nicht so tiefhuberisch und pathetisch gemeint, wie die deutsche Übersetzung klingt. Besser hieße es: „Das Nie-Endende“. Immerhin: Dänen lügen nicht. Und sie stapeln begrifflich auch nicht unnötig in die Höhe.
Der am 9. Juni 150-jährige Komponist gilt als dänisches Nationalheiligtum. Auch das missversteht man, wenn man dabei nur an Nielsens Violinkonzert, sein kanonisch-klassisches Flöten- und Klarinettenkonzert oder an Leonard Bernsteins großen Nielsen-Zyklus in den 60er Jahren denkt, der in den USA der Durchbruch für den Komponisten war. Nein, beliebt und populär ist Nielsen in seiner dänischen Heimat vor allem wegen der fast 300 Lieder, die man schon auf der Schule singt: Hits wie „Jens Vejmand“ oder „Sommersang“. Vier Fünftel aller Nielsen-Lieder, sagen manche Dänen, kennen wir auswendig.
Erstaunlicher Befund, durch den Nielsen sogar Schubert aussticht. Erfolgreichere Kunst-Volkslied-Schreiber als ihn – denn genau darum handelt es sich – hat es wohl überhaupt nirgendwo gegeben. So dass man in Dänemark selbst schockartig lernen musste, wie zwiespältig Nielsen eben einerseits für das große Publikum, dann aber auch für den Konzertsaal geschrieben hat. Als 1993 auffiel, dass man für Aufführungen von Nielsen schönster Oper „Maskarade“ nicht einmal über gedrucktes Notenmaterial verfügt, löste das in Kopenhagen eine politische Krise aus. Anschließend wurde der Königlichen Bibliothek, wo fast alle Autografen lagern, der Auftrag erteilt, sofort Abhilfe zu schaffen. Normalerweise müssen Wissenschaftler um Geld betteln – und nicht Politiker um wissenschaftliche Editionen. Inzwischen ist die Gesamtausgabe unter Niels Krabbe glorios abgeschlossen.

Andersen, Nielsen, Gade: Dänemarks Kulturoffensive

Zum laufenden Nielsen-Jahr hat man noch einmal ordentlich Geld in die Hand genommen, um den berühmten Sohn bekannter zu machen. An der Königlichen Oper wird neben besagter „Maskarade“ – erstmals seit 1993 – auch Nielsens andere Oper „Saul und David“ inszeniert (Regie: David Pountney). In Odense, dem Geburtsort auf Fünen, weiht man 2017 einen neuen Konzertsaal ein. Erreicht werden soll damit, dass man bei Dänemark nicht nur an bunte Ferienhäuschen denkt. Sondern an Kultur. Wofür man neben Hans Christian Andersen, dessen Geburtshaus (gleichfalls in Odense) eine größere Ausstellung erhält, demnächst auch Niels Wilhelm Gade stärker ins Feld führt: einen nicht nur vergessenen, sondern geradezu verdrängten Meister des 19. Jahrhunderts. 2017 ist Gade-Jahr!
Vorerst besteht die Nielsen-Lektion, die wir schon in Deutschland lernen können, in der Entdeckung einer kuriosen Vielfalt von Meisterwerken, die man stilistisch schwer fassen kann. Die sechs Sinfonien, meisterhaft dirigiert von Herbert Blomstedt und Esa-Pekka Salonen – oder neu: mit dem New York Philharmonic unter Alan Gilbert, und daneben Eingängiges wie das Bläserquintett (für Holzbläser! – schließlich sind wir in Skandinavien). Erlesen auch die Klaviermusik, so wie sie von Leif Ove Andsnes oder dem Nielsen-Zeitgenossen Herman D. Koppel gespielt wird. Fast ein Skandal, dass die vier Streichquartette so selten aufgeführt werden (vorbildlich auf CD: das Danish String Quartet). Und die Chor-Kantate „Frühling auf Fünen“ ist nicht nur etwas für Dänemark- Urlauber.
Dass es Nielsen in Deutschland schwer hatte, hängt nicht mit mangelnden biografischen Beziehungen zusammen. Seine erste Auslandsreise galt dem Heimatland Richard Wagners, der seine Wirkung auf Nielsen nicht verfehlte. Durch den in Kopenhagen zeitweilig angestellten Johann Abraham Peter Schulz gewann die Berliner Liederschule gleichfalls Einfluss auf ihn. In Berlin erfolgreich waren schon kurz nach ihrem Entstehen die 3. und 4. Sinfonie. Richtig gezündet hat es dennoch nicht. Das Problem: Ein vernichtendes Verdikt wie im Fall von Sibelius (durch den galligen Adorno) hatte Nielsen nicht vorzuweisen. Dass er hingegen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen aufgewachsen wäre – wie man dies Janáček generös zugute hielt –, traf auf Nielsen auch nicht zu. Also blieb die Rechnung offen.

Beeindruckender Trotzkopf mit großem Netzwerk

Mit Arnold Schönberg traf sich Nielsen in Nizza. Von Bartók wurde er gefragt: „Bin ich modern genug?“ Auch mit Hindemith hatte er Kontakt, ohne einer festen Schule zugerechnet werden zu können. Der gutaussehende Bürstenschädel, zu Lebzeiten bereits als Monument seines Landes geltend, muss ein impressiver Trotzkopf gewesen sein. Unweit des Schlosses von Kopenhagen bewohnte er zuletzt ein orangefarbenes Stallgebäude, in dem seine Ehefrau, die Bildhauerin Anne Marie Brodersen, ihr Atelier hatte. Von ihr war er wegen vieler Affären und Seitensprünge bereits seit Jahren offiziell getrennt. Man war dennoch zusammen geblieben. Von den bis zu zehn unehelichen Kindern, die Nielsen zeitweilig nachgesagt wurden, sind die meisten inzwischen widerlegt.
Literarisch hat der Däne hingegen einiges für die Nachwelt hinterlassen: Zum Nielsen-Jahr sind die Briefe des Komponisten zwölfbändig in der Originalsprache erschienen (Hg. John Fellow). Die Übersetzung der schönen Autobiografie „Meine fünische Kindheit“ (Eurotext) ist zu lange schon vergriffen. Wichtige neue CDs enthalten Nielsens „Songs For Choir“ (Ars Nova Copenhagen) und „The Unknown Carl Nielsen“: eine Liedersammlung mit Dénise Beck und Johan Reuter, die man mundgerecht ins Englische übertragen hat (Dacapo). Und schlussendlich lässt auch die vorbildliche Homepage www.carlnielsen. org denjenigen, der Blut geleckt hat, nicht wieder los.
So viel Entgegenkommens hätte es dann vielleicht nicht einmal bedurft. Carl Nielsen war einer der kantigsten, kühlsten und unkorrumpierbarsten Köpfe, ein tonaler Modernist aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. Er kann für sich selber sprechen – wenn man ihm nur zuhört. Licht muss er klingen. Licht kann er bringen. Köstlich klar!

www.carlnielsen.org
kglteater.dk
www.berlinerfestspiele.de/musikfest/nielsen

Der nächste Nielsen

Von vorne bis hinten: Herbert Blomstedt dirigiert die Fünfte in München mit dem BR-Symphonieorchester (11., 12.6.), Dennis Russell Davies die Vierte beim Gewandhausorchester (25., 26.6.). Beim Musikfest Berlin gibt’s die Dritte unter Janowski mit dem RSB (16.9.), die Vierte unter Rattle mit den Berliner Philharmonikern (18.-20.9.), die Fünfte mit Michael Boder und dem Royal Danish Orchstra (14.9.) sowie die Sechste mit dem Mahler Chamber Orchester unter Thomas Søndergård (9.9.). Ganzjährig verdient macht sich das Danish String Quartet um sämtliche Quartette: in Dresden (20.5., Nr. 1), Nossentin/Silz (26.6., Nr. 2), Geisenheim/Johannisberg (26.8., Nr. 1) und in Berlin (12./13.9.).

Robert Fraunholzer, 23.05.2015, RONDO Ausgabe 3 / 2015



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