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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Ein Morgen, ein Mittag, ein Abend in Wien

Oper, Festival, Konzert

Neujahrskonzert und Fledermaus gehören zu den musikalischen Pflichtprogrammen des Jahreswechsels in Wien. Dass man sich daneben auch noch gut amüsieren und Ungewöhnliches erleben kann, berichtet Markus Kettner.

Überall wimmelt es von Militär. Eine Phalanx grüner Busse des österreichischen Bundesheeres drängt sich auf der Straße vor dem Wiener Musikvereinssaal. Ihnen entsteigen Uniformierte aller Couleur, der einfache Soldat, der Gebirgsjäger mit flotten Fasanenfedern am Hut, der goldbetresste, lamettabehangene Offizier. Wie jedes Jahr fand auch diesmal am 30. Dezember die Voraufführung des Neujahrskonzerts speziell für das österreichische Bundesheer statt: viel spannender als das weltweite Fernsehereignis zwei Tage später.
Früher waren die Aufführungen ganz fürs Militär bestimmt, heute wird ein Teil der Sitzplätze auch verkauft. „Besser als Gewehrläufe putzen“, erfahren wir von einem österreichischen Rekruten. Und der erzählt gleich noch den schönen Witz: Was ist grün, liegt im Wald und zittert? Das österreichische Bundesheer beim Einmarsch der Liechtensteiner Volksarmee! Die champagnersprudelnde Walzerseligkeit im Saal ist dann doch auch immer ein wehmütiger Abgesang auf eine bessere Zeit. Wie übrigens auch der „Radetzky- Marsch“ – man weiß es nicht erst seit Joseph Roths Roman. Im Gedenken an die Flutopfer, erklärt der Vorstand der Wiener Philharmoniker, Dr. Clemens Hellsberg, soll der traditionelle Marsch in diesem Jahr entfallen, was Enttäuschung hervorruft auf dem Gesicht unseres Sitznachbarn, dessen Zugehörigkeit zum Musikkorps deutlich an der stilisierten Lyra am Kragen zu erkennen ist. Spontaner Zwischenapplaus dann aber, als bizarrerweise statt der beliebten Marschmusik die ersten Takte von „An der schönen blauen Donau“ erklingen – man hätte auch die „Donauwellen“ spielen können, es wäre nicht weniger geschmackvoll gewesen.
Das Diktum des von Thomas Bernhard erfundenen Musikwissenschaftlers Reger aus dem Roman „Alte Meister“, wonach „der Abort“ im Musikverein „jeder Beschreibung spottet“, stimmt im Übrigen nicht mehr. Wahr ist hingegen Regers Behauptung, das nahe gelegene Hotel Ambassador habe eine „nicht nur architektonisch, sondern auch sanitärsoziologisch bis in die kleinsten Einzelheiten hinein perfekte“ Toilette. Auch das Mittagessen, das wir nach dem Konzert der Wahrheitsfindung halber dort einnahmen, war wunderbar.
Eine willkommene Unterbrechung des üblichen musikalischen Neujahrsprogramms bot dann der Jahreswechsel im Haus des Countertenors Max Emanuel Cencic in Baden bei Wien. Nachdem ein Konzert im Wiener Barnabitenkloster kurzfristig abgesagt worden war, lud uns der Sänger spontan für den 31. Dezember zu seiner privaten Feier. Hier gab es schon mal Kostproben der ziemlich unbekannten Händel-Oper „Sosarme“ zu hören, die Cencic, man kann es nicht anders sagen, berückend schön zum Besten gab (in Kürze auch auf CD). Welchem Countertenor stünden derzeit ein schöneres und wärmeres Timbre, eine vielgestaltigere Palette an Ausdrucksfarben zu Gebote? Wir kennen keinen. Das Ambiente? Die Kulisse zu einer Fête Baroque hätte kaum schöner sein können.
Neujahr ging’s dann in die unvermeidliche „Fledermaus“ in der Wiener Staatsoper. Eine alte Otto-Schenk- Inszenierung zwar, die aber dem ungeschriebenen Theatergesetz folgte: Gute Inszenierungen bleiben auch über die Jahre gut oder werden noch besser. Die Aufführung präsentierte sich – wie der Vergleich mit dem jüngst erschienenen Mitschnitt von 1980 auf DVD beweist – gesanglich zwar nicht mehr auf dem Niveau von damals, darstellerisch aber war der Abend ein Feuerwerk an Witz und Spielfreude. Trotz eines kleinen Malheurs: Dr. Falke ließ die Flasche, die ihm Orlofsky „ungeniert“ entgegenwarf, fallen und zerschnitt sich bös die Hand. Daraufhin bekam er dann rasch Handschuhe verpasst und die Scherben wurden mit einem aus dem Fundus herbeigeholten stilechten Kehrservice weggefegt.
Da unsere reservierten Karten an der Kasse nicht auffindbar waren, setzte uns der eilig herbeigerufene Dramaturg in die rechte Proszeniumsloge, just neben die Gruberova. Die Primadonna assoluta hatte zwar in derselben Inszenierung die Adele oft und oft verkörpert, verfolgte aber immer noch gebannt und sichtlich amüsiert den ganzen Abend. Und ein Geheimnis ist nun auch gelüftet: Das in der „Fledermaus“ so wichtige Glockenspiel schlägt der Souffleur, was nur aus der vordersten Loge zu sehen ist.
Ach ja, und da war ja noch die Sache mit Schuberts Brille. Also am nächsten Morgen, kurz vor dem Rückflug, noch schnell hinaus in Schuberts Geburtshaus in der Nußdorfer Straße. Dort liegt sie, auf grünem Samt gebettet. Es ist, wie man uns versicherte, die echte Brille. Sie stammt aus dem Besitz von Josef Hüttenbrenner. In natura erkennt man es unschwer: Was wie eine Teilung der beiden Gläser aussieht, ist in Wahrheit ein deutlich sichtbarer Sprung. Die Brille weist eine Korrektur von -3,75 Dioptrien sphärisch auf. Soviel zu diesem Thema.

Markus Kettner, 25.04.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2005



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