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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Mut zum Schnitzer. Mut zum falschen Ton.

Artemis Quartett

In aller Welt werden die konfrontativ-aufrauenden Interpretationen des Artemis Quartetts gelobt, diese einzigartige Mischung aus jugendlichem élan vital und nachgerade weisem Ernst. Nun hat das Quartett einen neuen Vertrag unterzeichnet und ist sogleich in die stimmungsvolle Jesus-Christus-Kirche in Berlin- Dahlem marschiert, um dort Beethoven- Quartette aufzunehmen. Jürgen Otten sprach mit Eckart Runge, dem Cellisten des Quartetts.

RONDO: Wie war die Atmosphäre bei den Aufnahmen?

Eckart Runge: Es war sehr vieles sehr neu. Ein schönes Erlebnis. Wir kannten die Christus-Kirche vorher nicht.

RONDO: Spielt der Raum denn eine bestimmende Rolle für die Kunst, in Ihrem Fall, für die Musik?

Runge: Eine schwierige Frage. Ich würde sogar sagen, es ist fast schon eine Glaubensfrage. Ich persönlich tendiere eher dazu, zu sagen, es ist nicht so wichtig, wo man aufnimmt.

RONDO: Warum nicht? Steht die Interpretation gleichsam über dem Raum? RUNGE: Ja, für mich ist es so. Wenn ich Musik höre, geht es mir mehr um den Ausdruck als um die klangliche Qualität der Wiedergabe, das heißt, es spielt keine entscheidende Rolle, ob die Musik aus dem Ghettoblaster kommt oder aus einer modernen Hi-Fi-Anlage. Ich bin aber dennoch der Meinung, ein Raum kann für die Atmosphäre während der Aufnahme wichtig sein, weil es natürlich sehr viel mehr Spaß macht, in einem inspirierenden Raum zu spielen – wie beispielsweise in der Christus-Kirche. Die Kirche hat einen sehr angenehmen Nachklang, und zugleich ist die Akustik gestochen scharf, sehr edel und sehr hell.

RONDO: Wenn man sich Ihre letzte Aufnahme anhört, ebenfalls mit Streichquartetten von Beethoven, dann fällt die Mischung aus clarté und Struktur hier und Sinnlichkeit dort auf. Ist dies, nicht nur bei Beethoven, Ihr gleichsam dialektisches Ideal von Interpretation?

Runge: Clarté auf jeden Fall, weil gerade die Beethoven-Quartette so dicht sind und so reich an motivischer Arbeit und struktureller Vielschichtigkeit. Aber das Sinnliche muss eine große Rolle spielen. CDs sollen ja keine Lehrbücher sein, sondern sie sollen den Hörer durchaus auch zum Träumen anregen.

RONDO: Eigentlich liegt aber genau darin der Nachteil der CD gegenüber dem Live-Erlebnis, welches viel direkter die Emotionen anspricht.

Runge: Deswegen versuchen wir ja auch so viel wie möglich aus dem Live-Konzert in die Aufnahme mitzunehmen. Das ist das Ideal, große Bögen zu spielen, mit viel Risiko, sprich mit Mut zum falschen Ton, zum Schnitzer ...

RONDO: ... der aber bei fast allen Aufnahmen nachträglich bereinigt wird.

Runge: Klar. Einen Künstler nervt ein Schnitzer grundsätzlich, aber wir tendieren doch eher dazu, einen Schnitzer in der Aufnahme drin zu lassen, wenn es musikalisch die schönere Version war.

RONDO: Ist das so eine Art ästhetische Bewegung oder Position gegen den Zeitgeist mit seinem Hang zur technischen Perfektion, frei nach dem Motto „Zurück zu den Wurzeln“?

Runge: Ich glaube nicht, dass wir das so dezidiert vertreten. Wir sind keine Puristen. Ich glaube, das geschieht unbewusst, intuitiv. Wir erkennen uns in den Takes, die ursprünglicher sind, besser wieder als in einer technisch perfekten, aber langweiligen Aufnahme. Aber darin liegt ja das Problem einer Aufnahme. Man sitzt dort acht Stunden lang und macht etwas völlig Widernatürliches, etwas, das man im Konzert nie tun würde: Man spielt die gleiche Musik wieder und wieder. Ein großer Teil der Energie, die man während einer Aufnahme verwendet, besteht darin, sich von eben diesem unnatürlichen Tun zu befreien und – so gut es geht – sich vorzustellen, man würde einen bestimmten Satz wirklich gerade zum ersten und einzigen Mal spielen.

RONDO: Wenn es aber so ist: Warum machen Sie dann nicht ausschließlich Live-Aufnahmen?

Runge: Eigentlich wollen wir das. Es gibt dazu eine große Diskussion im Quartett. Aber ich glaube, dass es über kurz oder lang darauf hinauslaufen wird.

RONDO: Apropos Diskussionen im Quartett. Es stand zu lesen, die Musiker des Artemis Quartetts würden in vier unterschiedlichen Hotels übernachten, wenn sie auf Tournee sind. Klingt nach einer Ente.

Runge: Ist auch eine! Hat aber einen wahren Kern. Was wir pflegen und kultivieren, ist eine große Unabhängigkeit, zumal wir sehr unterschiedliche Gewohnheiten haben. Kurz, es gibt keine Fraktionsdisziplin in unserem Quartett. Deswegen haben wir uns eine individuelle Art zu reisen angewöhnt, aber natürlich wohnen wir meistens im gleichen Hotel. Nur eben nicht Tür an Tür.

RONDO: Gibt es Empfindlichkeiten, gibt es einen Common Sense? Kurzum: Wie funktioniert der Dialog innerhalb eines Quartetts?

Runge: Das ist ein Riesenthema, für jedes Quartett. Wir mussten lange Jahre lernen, eine Diskussionskultur zu entwickeln. Man steht ja als Quartettmusiker vor dem Dilemma eines im Grunde unlösbaren Konfliktes, einer realen Quadratur des Kreises. Einerseits muss man leidenschaftlich für seine eigene Position eintreten, andererseits braucht man die Fähigkeit zum Konsens und, wenn nötig, auch zur Zurücknahme, sprich: Wenn sich eine andere Idee durchsetzt, nützt es dem Quartett nichts, wenn man wie ein Stier bis zum Ende kämpft, dann muss man eben auch einmal zurückstehen mit seinen persönlichen Wünschen und Idealen. Das heißt aber nicht, dass man in jede Diskussion defensiv hineingehen sollte. Und daraus resultiert jener Konflikt, mit dem jeder von uns immer wieder konfrontiert wird. Ich glaube, wir haben inzwischen einen ganz guten Umgang damit gefunden. Dennoch: Es wird ein Thema bleiben und es wird einen jeden von uns immer wieder einmal unglücklich machen.

RONDO: Der Philosoph Kierkegaard sagt, erst in der Wiederholung einer Erfahrung liege das Glück einer Erfahrung. Musikalisch-interpretatorisch gesehen: Liegt der Gewinn im Erreichen des Neuen oder im tieferen Erkennen des bereits Vorhandenen?

Runge: Ich würde Letzteres sofort unterschreiben, zumal wenn es sich bei dem „Vorhandenen“ um komplexe Musikstücke handelt. Aber wenn ich Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ noch einmal zum ersten Mal hören könnte, wäre ich sehr glücklich. Ein solches Urerlebnis birgt eine ungeheure Faszination – wie ich auch gerne nochmals den Moment erleben würde, wo ich zum ersten Mal auf ein Fahrrad steige.

RONDO: Würden Sie denn gerne auch noch einmal ihre erste Cellostunde erleben?

Runge: (lacht) Das wohl lieber nicht.

Neu erschienen:

Ligeti

Streichquartett Nr. 1 u. 2

Artemis Quartett

EMI

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Neu erschienen:

Beethoven

Streichquartette op. 59 Nr. 1 u. op. 95

Artemis Quartett

EMI

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Jürgen Otten, 21.02.2015, RONDO Ausgabe 5 / 2005



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