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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Mary Slepkova/DG

Grigory Sokolov

Dabeisein ist alles

Dieser russische Pianist ist ein Monolith in unserer Musikwelt, der jeden Vergleich abweist. Ein Porträt.

Gab es je einen Pianisten von solchem Rang, der zugleich so zögerlich wahrgenommen wurde von der Kritik und den großen Veranstaltern? Und je einen, dem das so gleichgültig zu sein schien? Noch in den frühen 90er Jahren zog Grigory Sokolov Jahr für Jahr durch die mittelgroßen Universitätsstädte und spielte in schäbigen Hörsälen vor kleinem Publikum auf eine Art Klavier, wie man es noch nicht gehört hatte. Allein der Zierrat bei Rameau und Couperin – das war ja flüssiges Silber! Diese leise, selten donnernd auftrumpfende und völlig uneitle Kunst schien nicht von dieser Welt zu sein. Zu diesen Klavier-Hochämtern pilgerte ein verschworener Kennerkreis in Erwartung einer geradezu kunstreligiösen Erfahrung. Daran hat sich wenig geändert, nur ist er inzwischen dorthin gelangt, wohin ein Klavierspiel dieses Ranges hingehört: in die größten Säle. Der angewachsenen Gefolgschaft lebt er eine kompromisslose Musikerexistenz vor, die sich um die dramatischen Verschiebungen unseres Kulturlebens nicht zu scheren scheint. Kann man sich diesen Mann beim Lesen der letzten Kritiken vorstellen oder beim Signieren von CDs nach dem Konzert? Auch sorgte er dafür, als Mensch außerhalb der Bühne kaum zu existieren, aber dieser Rückzug hat nichts gewollt Mystifizierendes.

Ritualisierte Entrückung

Die kunstreligiöse Qualität dieses Musizierens baut stark auf einer Überhöhung des Rituals auf. Veranstalter wissen, dass er nur ein Programm pro Saison anbieten und erst spät ankündigen wird. Ritualisiert wirken seine Abkapselung auf der Bühne und auch die in mürrischer Generosität abgelieferten Zugabengirlanden, die einen regelrechten dritten Programmteil ausmachen können. Zum äußeren Ritualkreis gehören auch die ungezählten aus Jacketts und Handtaschen ragenden kleinen Mikrofone, die jedes Recital des Meisters dutzendfach eingefangen haben dürften. Der Wunsch nach der Verewigung des Wunderbaren ist einfach allzu groß, hat Sokolov doch seit fast 20 Jahren keinen Konzertmitschnitt mehr freigegeben. Die vielen Bootlegs aber können den Bühnenzauber kaum wiedererwecken. Die interpretatorischen Umrisse mögen ja wahrnehmbar sein, aber Sokolovs Klavierspiel arbeitet mit viel zu subtilen Mitteln, als dass man hinter den Skizzen seine Pianissimo-Nuancen und das in alle Farben des Prismas aufgesplitterte Klangbild auch nur ahnen würde. Was er da tut, lässt die Pianistenkollegen erbleichen, die wohl alleine ermessen können, auf welchem Niveau dieser Mann Klavier spielt. Für den „gewöhnlichen“ Hörer ist die Kunst, mit der Sokolov – etwa bei Bach – Klangregister schichtet und die Stimmen zu sprechendem Eigenleben bringt, ein leises Mysterium, dessen Betörungskraft jeden Versuch analytischer Rekonstruktion ausschließt.
Unvergesslich ist mir die Aufführung der späten Schubertschen Klavierstücke D. 946, Kompositionen, die selbst bei den größten Spielern ihre Längen haben können. Sokolov senkte den Puls dieser Musik an die Grenze des Stillstandes und öffnete – ich muss es so hymnisch-undeutlich sagen – magische Räume, die man in der Interpretationsgeschichte bisher nicht gekannt hatte. Es gab und gibt diese Augenblicke immer wieder, sie sind atemberaubend, und vielleicht sind sie es gerade deshalb, weil das Bewusstsein ihrer Unwiederbringlichkeit uns zu einem viel gebannteren Zuhören anhält. In Sokolovs Bann glaubt man dann auch Dinge, die einem bei anderen Pianisten nicht gefallen würden. Gegen die etwas behäbige Hammerklaviersonate etwa hatte ich durchaus Einwände – aber wenn das einer so spielt, schweigt der mäkelnde Philister in einem.

Berührung auf Band

Gelangen solche Offenbarungsmomente auf die CD, hört man manches allerdings anders, distanzierter. An Aufnahmen von Pianisten, die sich im Studio bemühen, einen Zipfel der unerreichbaren Objektivität zu fassen, sollte man sie nicht messen. Sokolov ist kein Produzent von Referenzaufnahmen (auch das ist ja ein trügerischer Begriff). Noch das geringste Detail eines Chopinschen Préludes formt er in einer pianistisch derart erlauchten Weise aus, dass diese unvergleichliche Berührung, mag sie Chopin noch so dienlich sein wollen, das Werk herrlich überglänzt. In diesen Momenten fallen wir vor Sokolov auf die Knie, nicht vor der Komposition. Offenbart sich nicht auch darin der erfüllte, spontane Moment gegen den Geist des klassisch-abgewogenen Reproduzierens?
Was mag ihn veranlasst haben, sich dem Tonträger wieder anzuvertrauen? Es war eine etwas befremdliche Nachricht, Sokolov sei nun ausgerechnet DG-Exklusivkünstler. Vermutlich wird er bei dieser Entscheidung an Fischer- Dieskau oder den späten Gilels gedacht haben, nicht aber an die aufkommende Katalog- Gemeinschaft mit denen, die ihre Künste in Berliner Großraumdiskotheken zu Markte zu tragen haben. Und auch nicht daran, dass die Zusammenarbeit der DG mit einem Pollini dem Vernehmen nach wohl nicht mehr fortgesetzt wird. Wer geglaubt hatte, Sokolovs einsamer, eigenwilliger Weg, vorbei an allen Zumutungen einer massenkulturell ausgerichteten Branche, sei ein absichtsvoll Beschrittener gewesen, wird eine leise Wehmut spüren, dass er sich nun ausgerechnet einem Ort entgegensenkt, den er Jahrzehnte umgangen zu haben schien. Ich hoffe, die Freude an der Wiederbegegnung mit etlichen Jahrgängen unvergesslicher Klavierabende wird die Schatten rasch vertreiben. Das pure Wunder dieser Klavierkunst können sie ohnehin nicht verdunkeln.

Neu erschienen:

The Salzburg Recital (Live)

Grigory Sokolov

DG/Universal

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Magische Zuverlässigkeit

Grigory Sokolov wurde 1950 im damaligen Leningrad geboren und studierte am dortigen Konservatorium. Schon mit 16 gewann er den Tschaikowski-Wettbewerb im rivalisierenden Moskau. Sein Repertoire deckt – die Musik der Gegenwart ausgenommen – alle Epochen ab, ist aber selektiv. Weder das Tonstudio noch die Zusammenarbeit mit Dirigenten sind seiner Inspiration förderlich. In den großen Konzerthäusern findet er sie glücklicherweise regelmäßig mit magischer Zuverlässigkeit.

Matthias Kornemann, 21.02.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2015



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