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N° 1354
20. - 26.04.2024

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am 27.04.2024



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Beredtes Schweigen

Riccardo Chailly in Leipzig

In Sachsens größter Stadt hat es Riccardo Chailly, der neue Gewandhaus-Kapellmeister, mit großen Zahlen zu tun: Sei es die Zahl der Köpfe des größten professionellen Klangkörpers der Welt, sei es die Anzahl der Posten im Etat, die einzusparen sind. Autor Karl Dietrich Gräwe, mit RONDO-Redakteur Markus Kettner im Schlepptau, wollte mehr wissen und besuchte den Maestro in seinem Leipziger Amtszimmer.

Nach 17 Jahren Treue zum Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam hat Riccardo Chailly Wirkungsort und Dienstverhältnis gewechselt, zur sage und schreibe 225. Gewandhaus-Saison. Er bekommt es mit einem Orchester zu tun, das wohl, so weit Auge und Ohr reichen, das personalreichste fest angestellte Berufsorchester der Welt ist: 170 Mitglieder, darunter fast 60 Violinen, 14 Kontrabässe, 11 Waldhörner usw. Zum ersten Mal seit 37 Jahren ist der Gewandhaus-Kapellmeister auch wieder GMD der Oper. Die liegt dem Gewandhaus gegenüber, am anderen Ende des weiträumigen, rechteckigen Augustusplatzes.
Gewandhauskonzerte wird Chailly kontinuierlich leiten, in der Oper aber die nächsten fünf Jahre pro Spielzeit nur eine Premiere herausbringen. Ungerechte Verteilung? Er verneint. Er wolle nicht inflationär werden in Leipzig. Dasselbe Orchester spiele doch in beiden Häusern, bleibe also in seiner Hand. Aber die Opernbesucher mit nur einem Chailly pro Saison kommen doch zu kurz? Chailly sagt Nein. Er will im Opernhaus einen sorgfältig ausgesuchten Mitarbeiterstab einsetzen, mit einem Dirigenten an der Spitze, der sein zweites Ich ist und erstklassige Kapellmeister zur Seite hat. Die Befürchtung der Außenstehenden, dass die beiden Ichs, zumal bei dem Anspruch und der Gewichtigkeit beider Häuser, sich zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde entwickeln könnten, ist da nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber dafür, lächelt der in aller Welt gefeierte und in diversen Ländern hoch dekorierte Ritter und Cavaliere, dafür sind wir eine nicht spaltbare Einheit komplementärer Kräfte. Vorbereitung, Zuordnung, Organisation sind alles, belehrt der in der lombardischen Hauptstadt Mailand geborene Maestro die preußischen Fragesteller.
Zugegeben: Es gibt auch Leipziger, die neiden dem neuen Gewandhaus-Chef, dass er morgens zur Probe mit dem Dienst-BMW vorgefahren kommt. Wo er doch mit dem Oberbürgermeister Tiefensee so hart um den Haushalt ringen musste und der Spagat zwischen öffentlich verordnetem Sparzwang und musischer Entfaltungsfreiheit so lebensgefährlich wurde, dass er seufzend in ein Opfer einwilligte: Dem professionellen Gewandhaus Kammerchor geht es an die geläufigen Kragen. Fiel es dem Oberbürgermeister – der inzwischen als Minister in Berlin amtiert – leicht, diese Opfergabe zu erzwingen? Im Gegenteil, versichert Chailly, er spiele ja bekanntlich sogar selbst Cello! In Amsterdam wurde Chaillys Einsatz für Mahler und Bruckner mit einem breiten Strom der Akzeptanz belohnt, in den Niederlanden, in der ganzen Welt. Seine CDs, die zu kompletten Zyklen anschwollen, sind Bestseller geworden, seine Einspielung sämtlicher Mahler-Sinfonien wurde erst jüngst mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik prämiert. Natürlich hofft jetzt auch das Gewandhausorchester auf ansteigenden CD- und DVD-Ruhm. Chailly weiß sich in bester Leipziger Gesellschaft. Arthur Nikisch, einer unter vielen erlauchten Chefs (und die hießen immerhin Mendelssohn, Furtwängler, Bruno Walter …), hat in Leipzig nicht nur Bruckners Siebte zur Uraufführung gebracht, sondern ganze Bruckner-Zyklen veranstaltet (ebenso in Berlin mit den Philharmonikern).

Bach, den habe er unentwegt in seinem Kopf und seinem Taktstock.

Bach, Johann Sebastian Bach sei seine ganze Leidenschaft, gibt er uns zu Protokoll. Mozart liebe er, und im Mozart-Jahr 2006 wird er an dem natürlich nicht vorbeikommen. Aber Bach, den habe er unentwegt in seinem Kopf und seinem Taktstock, Bach sei ein planvoller, methodischer Musikarchitekt (wie der Maestro selbst, möchte man hinzufügen). Die Passionen hat er seit eh und je und in aller Welt dirigiert, die h-Moll-Messe ist das nächste Objekt seiner Passion. Und mit Thomas-Kantor Biller gibt’s Absprachen: Sie werden das einschlägige Bach-Erbe umschichtig untereinander aufteilen. 2006 ist in Leip zig auch wieder Bach-Fest. Chailly lässt Bach mit modernem Instrumentarium spielen, aber im barocken Stil, mit der Spieltechnik und Artikulation, die von der historisch orientierten Musizierpraxis angeregt wurden. Muss er dann für die großen Chorpartien der Passionen in Ermangelung des Gewandhaus-Kammerchores den Opernchor zu Hilfe rufen? Der nach wie vor unangetastete Gewandhauschor (ohne die Qualifikation „Kammer-“) ist ein Laienchor. Chailly – nun doch ein wenig gereizt – schweigt … Und das ist auch eine Antwort.
Und was wird 2013 sein, um mit den unbequemen Fragen fortzufahren: Nicht nur ein Verdi-Jahr, sondern auch das 200. Geburtsjahr des Leipzigers Richard Wagner. Der größtmögliche denkbare Anlass, ein Wagner-Fest (vielleicht auch ein komplementäres Verdi- Fest) zu feiern, das die Stadt auf den Kopf stellt und die Welt mobilisiert. Chailly runzelt noch einmal zweifelnd die Stirn. Alles, was wir heute wissen: Für einen repräsentativen „Ring“- Zyklus, für ein opulentes Wagner-Festival fehle das Geld. Eine (vielleicht nicht so gemeinte) schlimme Prognose für heutige und künftige Zeiten. Die Schere will sich nicht öffnen und nicht schließen. Für Projekte ungewöhnlichen Umfangs muss (müsste) man heute schon planen. Die Versatzstücke des Kunst- und Kulturkommerzes rotieren rapide. Andererseits: Wer weiß heute, auf wen und was wir in sieben Jahren zugreifen, bei schrumpfenden Halbwertszeiten und rasch näher rückenden Verfallsdaten? Und was heute schon nicht mehr finanzierbar scheint, kann und will man dafür in sieben Jahren noch Mittel locker machen? Und will sich Chailly so lange im Voraus binden?
Schlimme Zeiten! Mit einem Toscanini hätte man das nicht machen dürfen. Aber selbst der wäre gegen das Hier und Heute machtlos gewesen. Das Gewandhaus an der nördlichen Schmalseite des Augustusplatzes, 1981 eröffnet, ist ein wuchtiger, kopflastiger Betonklotz. Dass der Große Saal eine herrliche Akustik hat, ist dem Bau von außen nicht anzusehen. „Res severa verum gaudium“, steht drinnen als Wahlspruch angeschrieben. „Wahres Vergnügen ist eine ernste Sache.“ Wohl wahr! Noch sieht drinnen und draußen alles nach Friede, Freude und Wohlgefallen aus.

Karl Dietrich Gräwe, 07.02.2015, RONDO Ausgabe 6 / 2005



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