Startseite · Interview · Gefragt
Wer sich mit Uli Aumüllers experimentell zu nennendem Dokumentarfilm auf die Reise ins 12. und 13. Jahrhundert begibt, der lässt schnell die Oberflächenberieselung hinter sich. Auf multimediale Weise nähert sich Aumüller seinem Thema, wobei schon äußerlich die Opulenz der sechseinhalbstündigen Box imponiert. Der Film fragt nach tieferen Bezügen und Analogien des Mittelalters zu unserer Gegenwart und stellt uns das Mittelalter mithin als „überraschend modern“ vor. Und zwar in Gestalt Perotins, jenes revolutionären Komponisten, der die Musikhistoriker vom höchst bedeutsamen „Ereignis Notre-Dame“ sprechen lässt.
Zwar weiß man kaum etwas über die Person dieses um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert an der Pariser Kathedrale wirkenden so genannten „kleinen Petrus“; aber schon die unmittelbare Nachwelt verlieh ihm den Titel „Magnus“. Schuf er doch etwas fundamental Neues, das die europäische Musikgeschichte im eigentlichen, individuell-schöpferischen Sinn erst begründete: musikalisch messbare Zeit in Gestalt von rhythmischen Zellen mit Notenwerten unterschiedlicher, aber vergleichbarer Dauer in der so genannten Mensuralnotation. Gab es vorher eine frei in Melismen improvisierte, dem Text bzw. Sprachduktus folgende Diskantstimme über dem gregorianischen Choral, so schuf Perotin erstmals Werke mit drei oder vier Stimmen, die gleichzeitig in verschiedenen Tonlagen und Geschwindigkeiten erklingen. Diese planvoll mensuriert zu koordinieren, war seine Pionierleistung und ließ die „Polyphonie“ und den „Komponisten“ im eigentlichen Sinn entstehen, mithin die abendländische Kunstmusik überhaupt.
Das provozierendste Anliegen des Films gilt der „Botschaft“ der Mariengesänge, in denen Perotin das Wunder der Unbefleckten Empfängnis besingt. Maria bleibt Jungfrau, und Gott behält seine Makellosigkeit, indem er Maria küsst und befruchtet ohne Berührung des Fleisches. Aber wie, so fragt Aumüller im Verbund mit Burckhardt, kommt Gott dazu, sich mit einem Menschen zu vermählen und selbst Mensch zu werden? Maria, so die zentrale These des Films, ist eine der größten Verführerinnen, die die Mythologie kennt! Man mag diese Interpretation interessant, obszön oder schlicht überflüssig finden. Der Gedanke, das erotische Moment der Marienverkündigung filmisch präsent zu machen, gelang Aumüller jedenfalls eindringlich, vor allem, wenn er die gotischen Kathedralen als Körperräume Mariens bzw. ihres gekreuzigten Sohnes versteht und diese mit Lichtstrahlen erfüllt aufleuchten lässt. Nicht zuletzt gehört zum Marien-Eros-Kontext natürlich auch der Tanz. Perotins Gesänge, von Simona Furlani und Tanja Oetterli in einer Choreografie von Johann Kresnik getanzt, diese sinnliche Erfahrung von Musik ist mehr als nur eine Lust für Augen und Ohren, dahinter steht auch die wissenschaftliche Vermutung, dass die 800 Jahre alten Kathedralgesänge viel mehr mit ekstatischen Derwisch-Darbietungen (die die Kreuzritter im Orient kennen gelernt hatten) zu tun hatten als mit je - nen romantisierend-reinen Engelsgesängen, die wir heute, auch und gerade vom Hilliard Ensemble, als musikalisches Wellnessprogramm erwarten.
Christoph Braun, 31.01.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2006
„Gut Ding will Weile haben“, sagt der Volksmund. Dies trifft sogar in der digitalen Zeit zu, in […]
zum Artikel
Alles im Fluß
Mozart als Meisterbeweis: die Kammerakademie
Potsdam stellt sich unter ihrem Chef den drei letzten […]
zum Artikel
Von der Seele in die Partitur
Das Mariani Klavierquartett widmet sich auf seinem neuen Album den spätromantischen […]
zum Artikel