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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Carmens Schicksal

Der Fall "Anna Sutter"

Am 29. November vergangenen Jahres wurde der 47-jährige Tenor Deon van der Walt, mehrere Jahre Ensemblemitglied der Stuttgarter Staatsoper, wegen Familienstreitigkeiten von seinem Vater in Südafrika erschossen, der anschließend die Waffe gegen sich selbst richtete. Das Verbrechen ruft eine ähnlich geartete Bluttat aus dem Jahr 1910 wieder ins Gedächtnis: den als „Stuttgarter Künstlertragödie“ in die Geschichte eingegangenen Fall der Anna Sutter. Von Eva Maria Schlosser

Am Mittwoch, den 29. Juni 1910 ist der Himmel bewölkt, die Temperaturen sind mild. Das Thermometer zeigt 17 Grad Celsius. Die Sopranistin Anna Sutter liegt noch im Bett, erschöpft vom Abend zuvor, an dem sie die Denise de Flavigny in Hervés „Mam’zelle Nitouche“ gegeben hatte. Ihre zehnjährige Tochter Mathilde spielt bereits mit ihren Freundinnen vor dem Haus auf der Straße. Seit 1893 ist Anna Sutter Sängerin am Königlichen Hoftheater. Sie gibt die Marzelline in „Fidelio“ und die Hanna Glawari in Franz Lehárs „Lustiger Witwe“. Sie beeindruckt als Salome, lässt sich als erste Opernsängerin beim „Tanz der sieben Schleier“ nicht durch eine Tänzerin doubeln und sie verführt vor allem als leidenschaftliche Carmen. Zeitgenossen lobten ihre glockenhelle Stimme, ihre schauspielerische und tänzerische Begabung und ihre fast magische Ausstrahlung.
Ihre wechselnden Liebhaber sind kein Geheimnis. Zwei von ihnen verlieren deshalb ihren Posten an der Hofoper. Zeugnis ihrer zahlreichen Liaisons d’Amour legen außerdem zwei uneheliche Kinder ab. Zum einen ist da eben die 1900 geborene Mathilde, zu deren Vaterschaft sich Hans Freiherr von Entress-Fürsteneck bekennt, zum anderen der 1902 geborene Felix, der von einer befreundeten Familie in München erzogen wird. Sein Vater ist vermutlich der in den Jahren 1898 bis 1903 in Stuttgart als Kapellmeister tätige Hugo Reichenberger. Trotz dieser gesellschaftlichen „Entgleisungen“, die zu jener, noch wenig emanzipierten und selbst am Hoftheater eher frauenfeindlichen Zeit einen öffentlichen Affront darstellen, erfährt die Sutter die Toleranz der Stadtbewohner, die sie liebevoll „unser Sutterle“ nennen. Ihr Können und ihre selbstbewusste Lebensart, die freilich nur einer Künstlerin zugestanden wird, machen sie zu einer Art Kultfigur. Selbst der Intendant des Königlichen Hoftheaters, Baron von Putlitz, steht hinter ihr. Zuletzt ist sie mit einem gewissen Albin Swoboda liiert, einem jungen Sänger, der ebenfalls an der Hofoper singt und sich, so lauten jedenfalls die Gerüchte, just an diesem schicksalhaften Mittwochmorgen des 29. Juni in Sutters Wohnung befindet.
Gegen neun Uhr verlässt der (ehemalige) Stuttgarter Hofkapellmeister Aloys Obrist seine Wohnung in der Eugenstraße 7, mit zwei geladenen Browning-Pistolen in der Jackentasche. Zielort: die Schubartstraße 8, Anna Sutters Wohnung. Wahrscheinlich unternimmt er noch einen Spaziergang, denn es ist bereits weit nach zehn Uhr, als er bei der Sopranistin um ein Gespräch ersucht. Das Dienstmädchen aber will ihn nicht hereinlassen. Doch Obrist stürmt ins Schlafzimmer und erschießt nach einem kurzen Wortwechsel zuerst die Sängerin und dann sich selbst. Sieben Schüsse fallen. Zwei treffen die Sängerin, mit fünfen nimmt sich der ehemalige Kapellmeister selbst das Leben. In der „Schwäbischen Kronik“ ist zu lesen: „Frln. Sutter liegt im Bett, den rechten Arm weit ausgebreitet, und den linken, der durch die Kugeln verletzt wurde, zusammengebogen. Wie in ‚Carmen‘, ihrer Hauptrolle, lag sie da.“

Die Polizeiakten aus den Jahren existieren nicht mehr. Zeitungsartikel, Gerüchte und wenige Zeitzeugenaussagen sind Grundlage der heute offiziellen Version des Tathergangs. Jenen zu rekonstruieren, hat sich Georg Günther, Mitherausgeber des Jahrbuchs „Musik in Baden- Württemberg“, bemüht. Er folgte Spuren, sammelte Dokumente und Fotografien und stieß schließlich auf den Nachlass der Familie Sutter, den Felix’ zweite Ehefrau Ina Suter (Anna hatte am Anfang ihrer Karriere ihren Namen in Sutter verändert) dem Stadtarchiv Stuttgart übergab. Im Jahr 2001 initiierte Günther eine Ausstellung im Staatsarchiv Ludwigsburg, begleitet von einem reich bebilderten Katalog. Hier ist auch zu erfahren, dass Zeitgenossen Aloys Obrist, den Mann, der zum Mörder wurde, für einen „gerecht denkenden, untadeligen, liebenswürdigen, geistreichen und hoch gebildeten Mann“ hielten. Aloys, der jüngere Bruder des Jugendstilkünstlers Hermann Obrist, ist unglücklich mit der um elf Jahre älteren ehemaligen Hofschauspielerin Hildegard Jenicke verheiratet. Nur für kurze Zeit, von 1895 bis 1900, ist er am Stuttgarter Hoftheater als Kapellmeister tätig. Sein Schwerpunkt sind Wagner-Opern. 1896 leitet er den ersten vollständigen „Ring“-Zyklus, ein Jahr später folgt die Erstaufführung von „Tristan und Isolde“. Aber er dirigiert auch Verdi, Humperdinck, Liszt, Tschaikowski und Bruckner. Nach einer Zeit in Weimar kehrt er 1907 nach Stuttgart zurück, wo er wieder als Kapellmeister fungiert und sich in die attraktive, seit 1906 zur Königlichen Kammersängerin ernannte Sopranistin verliebt. Ein unbekannter Autor schreibt posthum im „Neuen Tagblatt“: „Mit unbeirrtem Ernste erschien es ihm als seine Lebensaufgabe, die Frau, die er liebte, der er so viel zu verdanken glaubte, aus den Banden ihres bisherigen Lebens und ihres Temperamentes zu befreien, zu erretten, ‚zu erlösen‘ ...“ Aber Anna Sutter will nicht „erlöst“ werden.
Zunächst durch die leidenschaftliche, kompromisslose Liebe geschmeichelt, will sich Anna Sutter Obrists Besitzanspruch und manische Anhänglichkeit bereits nach einigen Monaten nicht mehr gefallen lassen. Sie sucht ihn zu meiden, verbittet sich jegliche Annäherung. Obrist stellt ihr beharrlich nach. Am Vorabend des 29. Juni gibt er noch eine Einladung und präsentiert seine bedeutende Sammlung historischer Musikinstrumente. Ein Augenzeuge schreibt in der „Schwäbischen Kronik“: „Ein charmanter Wirt, ein unermüdlicher Erklärer und Schilderer, der wissensreiche und feingebildete Künstler und Kenner, der begeisterte Liebhaber seiner prächtigen und wunderbar erhaltenen Instrumente mannigfaltigster Art ...“ Einen Tag später begeht er die Bluttat, in deren opernhafter Theatralik, die Realität die Bühne einzuholen scheint. Obrists Instrumentensammlung befindet sich übrigens heute im Besitz des Bachhauses in Eisenach.

Rondo Redaktion, 31.01.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2006



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