Wer sich rauschende Dokumente aus ferner Vergangenheit antut, ist nicht selten getrieben von der Neugier, zu erfahren, wie etwa Chopin oder Liszt gespielt haben könnten. Manche »Quellen« mögen trügerisch sein, aber es gibt tatsächlich diese seltenen, glaubhaften Botschafter aus einer verstummten Epoche. Moriz Rosenthal, 1862 geboren, nahm Unterricht bei Mikuli, dem Schüler Chopins. Sein zweiter Lehrer war dann Liszt selbst... Als sei das nicht Glücks genug, sind schon seine frühesten Aufnahmen, Walzer und Mazurken von 1928, von verblüffender Klangqualität (und phänomenal remastered). Die Botschaft aus der Vergangenheit verlangte eine ausführliche Übersetzung. Von der Konzeption des Chopinschen Rubatos über die Phrasierung bis zu den unerhört freien inneren Temporelationen begegnet man einer verlorenen Welt, bezaubernd und auch etwas fremdartig.
Noch abenteuerlicher sind die verwehten Tonspuren des »Mysteriums von Kairo«. Ignaz Tiegerman, exzentrischer Schüler des großen Virtuosenschmiedes Leschetitzky, strandete 1933 auf der Flucht vor den Nazis in Ägypten, wo er ein weltabgewandtes Salonleben aufnahm, als sei die Belle époque noch nicht ganz vorüber. Er ging nie wieder fort, unterrichtete höhere Töchter und vollverschleierte Musliminnen, ertrug tutende und kratzende ägyptische Orchester – eins überrolte er mit seinem »Powerplay« im zweiten Brahmskonzert förmlich –, oder warf für staunende Besucher lässig die Terzenetüde auf elendem Flügel hin. Durch den Schleier des Rundfunkrauschens samt arabischer Wortfetzen muss sich unser Hören eine Chopinsche h-Moll-Sonate rekonstruieren, deren alles mitreißender Elan uns die Schrecken eines zerstörten Klangbildes irgendwann vergessen lässt. Einiges, etwa eine schlichtweg vollkommene Version des Brahmsschen h-Moll-Capriccios, ist auch für den Nicht-Archäologen eine Freude.
Als hätte die EMI es geahnt, wurde diese Sammlung zum Denkmal für den kürzlich verstorbenen Alexis Weissenberg. Es ist eigenartig, dass Weissenbergs Kunst in ihrer alles Sentiment provozierend ausbrennenden Schärfe und Schnörkellosigkeit, ihrer architektonischen Klarheit und ihrem raubtierhaften Zugriff in einer Epoche, in der Neo-Plüsch à la Lang Lang wieder in Mode ist, ihr kühles Verstörungspotential bewahrt hat, das die Kritiker damals so in Rage brachte. Wir haben Gelegenheit, es als Qualität wiederzuentdecken in pianistisch wie aufnahmetechnisch einsamen Gipfelleistungen wie Rachmaninoffs Zweitem und den Franck-Variationen, sekundiert von Karajan und den Berlinern.
Eine überraschende Zugabe: Wussten sie, dass Dirigentenlegende Bruno Walter ein fabelhafter Pianist war? Unerhört herrisch peitschte er 1938 die Wiener Philharmoniker durch das d-Moll-Konzert von Mozart, das er vom Flügel aus leitete. Eine Art »Urszene« für dirigierende Spieler. Einen solchen Finale-Reißer legte aber keiner wieder hin.
Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2012
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