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N° 1354
20. - 26.04.2024

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am 27.04.2024



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Das West-Eastern Divan Orchestra

Aus der Not geboren

Seit 1999 ist Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra auf musikalischer Friedensmission. Daran haben auch die neuen Feuer und Flächenbrände im Nahen Osten nichts geändert. RONDO-Autor Guido Fischer hatte die Möglichkeit, zwei junge Orchestermitglieder zu befragen.

2004 bekam Daniel Barenboim in Israel einen wichtigen Kulturpreis verliehen. Ort der Zeremonie war die Knesset in Jerusalem. Und obwohl Barenboim sich stets als ein Musiker und nicht als Politiker bezeichnet hat, sorgte seine Dankesrede für einen ähnlich politisch eingefärbten Skandal wie 2001, als er es gewagt hatte, mit der Staatskapelle Berlin das Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ zu spielen. In einem Land, in dem wegen der Überlebenden des Naziterrors und ihrer Angehörigen Wagner weiterhin ein Tabu ist. Barenboim ist aber eben nicht nur ein Mann, der die große symbolische Geste der Versöhnung wagt. Als er in der Knesset aus der Unabhängigkeitserklärung Israels zitierte und ihr Bekenntnis zu Frieden und Respekt auch gegenüber den Nachbarstaaten heraushob, wurde das gleich noch in der Knesset als Landesverrat und als Angriff auf Israel gebrandmarkt.
Damals schlug das auch international erhebliche Wellen; und selbst jetzt noch bekommt man, wenn man die auf der DVD „The Ramallah Concert – Knowledge is the Beginning“ dokumentierte Feierstunde verfolgt, einen hautnahen und irritierenden Eindruck, welche Wand sich da selbst unter Juden zwischen Hardlinern und Pazifisten aufgebaut hat. Bis hin zu einem empörten Jurymitglied, der in Anlehnung an Auschwitz Barenboim ein Schild vorhält mit der Aufschrift: „Musik macht frei“.
Zwei Jahre später ist Barenboims auf Versöhnung bedachte Rhetorik mal wieder von der Aktualität zerstäubt worden. Umso mehr hält Barenboim an einem Orchester fest, das im Gründungsjahr 1999 für enorme Schlagzeilen sorgte – als Barenboim mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said in Weimar das West-Eastern Divan Orchestra gründete und damit junge Musiker aus Israel, Ägypten, Syrien, Jordanien und dem Libanon zusammenbrachte. Musik als integrierende Kraft und gemeinsame Verständigung über Grenzen hinweg – dieses Credo scheint zumindest bis heute Bestand zu haben. Denn wenn man sich in diesen Monaten unter den Orchester-Musikern umhört, sind Feindschaften jedenfalls unter den jüdischen und arabischen Musikern nicht aufgebrochen. Für den 19-jährigen, ägyptischen Oboisten Mohamed Saleh Ibrahim ist das Orchester weiterhin wie eine Familie: „Solche politisch angespannten Situationen schweißen uns noch mehr zusammen, es gibt keine Spannungen unter uns.“ Was der 22-jährige Geiger Daniel Cohen aus Israel bestätigt, der zurzeit an der Londoner Royal Academy of Music das Dirigentenhandwerk studiert: „Natürlich ist es fast überflüssig zu erwähnen, dass wir wegen der Lage sehr sensibilisiert sind. Wir sind aber nicht zusammen, um diese schwierige Lage zu lösen. Es geht vielmehr darum, die andere Seite, ihre Gedanken kennen zu lernen und zu verstehen – auch wenn wir eben oft nicht einer Meinung sind.“
So sehr die Chemie untereinander stimmt, so ist die Arbeit aber dann doch auch wieder von äußeren Vorzeichen abhängig. Ein Konzert in Kairo, das am 20. August innerhalb der Tournee des West-Eastern Divan Orchestra geplant war, musste angesichts der derzeitigen Lage wieder aus dem Terminkalender gestrichen werden. Dafür hatte man immerhin mit Beethovens 9. Sinfonie ein Werk mit im Gepäck, das für Daniel Cohen geradezu exemplarisch den Geist des Orchesters widerspiegelt: „Ich glaube, dass dieses Stück weniger einen utopischen Kern besitzt als vielmehr die Idee von einer menschlichen Solidarität und fruchtbaren Koexistenz angesichts der Realität.“ Und wie man diese Idee als Gegenentwurf zur Realität gleich noch in die Orchesterpraxis umsetzen kann, hat Daniel Barenboim unlängst in einem Radiointerview unterstrichen: „Ja, das Schreckliche oder das Ironische, wenn Sie so wollen, an dieser Geschichte ist, dass dieses Projekt total unnötig wäre, wenn es keinen Konflikt gäbe.“

Neu erschienen:

The Ramallah Concert – Knowledge Is The Beginning

Daniel Barenboim, West-Eastern Divan Orchestra

Warner DVD

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Guido Fischer, 13.12.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2006



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