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RONDO: Die ersten Aufnahmen der Schubert-Edition von Matthias Goerne tragen Titel wie »Nacht und Träume« oder »An mein Herz«. Was reizte Sie, ausgewählte Lieder von Schubert thematisch so zu bündeln?
Christophe Ghristi: Die Welt dieser Lieder ist zuallererst die Poesie, also Texte, Gedichte. Und wenn man thematisch arbeitet, arbeitet man zunächst mit den Texten. Daher war es für mich eher eine literarische Arbeit und weniger eine musikalische. Ich bin zwar Chefdramaturg an der Pariser Oper. Aber ich bin auch Literaturwissenschaftler. Und ich habe eine große Leidenschaft für das deutsche Lied. Für mich sind die Gedichte genauso wichtig wie die Musik.
RONDO: Es gibt dieses berühmte Zitat von Schubert, dass »bei einem schlechten Gedicht nichts vom Fleck geht«. Hat er für Sie überhaupt schlechte Gedichte vertont?
Ghristi: Ich finde nicht. Es gibt natürlich verschiedene Niveaus. Die Goethe- und Heine-Lieder sind unglaublich. Ich glaube aber, dass Schuberts Geschmack einfach gut war. Es gibt schlichte Lieder auf Texte unbekannter Autoren. Aber sie drücken so viel über die Sehnsucht, über die Melancholie aus. Sie haben alle eine Atmosphäre. Das hat Schubert sofort gefühlt und es hat ihn daher auch gereizt.
RONDO: Sehnsüchtig und melancholisch – das sind die bekannten Schubert- Attribute. Was schwingt darüber hinaus für Sie in seinen Liedern mit?
Ghristi: Seine Musik ist ein einziger Ausdruck von Tragik. Selbst in seinen schönsten Liedern höre ich die pure Verzweiflung, die Vergänglichkeit mit. Sämtliche Lieder nach Texten von Johann Mayrhofer sind unglaublich depressiv.
RONDO: Wie ist die Zusammenarbeit mit Matthias Goerne zustande gekommen?
Ghristi: Er hat mich gefragt, ob ich für seine Schubert-Aufnahmen die Lied- Dramaturgie übernehmen möchte. Daher ist das Projekt ganz auf ihn und seine Stimme zugeschnitten, auf seine Kunst. Er hat eine typische Schubert- Stimme. Diese Stimme ist extrem schön, und er singt mit so viel Opulenz und Pracht. Aber Goerne ist für mich auch ein verzweifelter Künstler. Er hat in sich auch diese Tragik.
RONDO: Welchen Stellenwert hat der Liedkomponist Schubert eigentlich in Frankreich?
Ghristi: Im 20. Jahrhundert gab es ja mit dem Bariton Gérard Souzay einen wirklich ganz großen Schubert-Interpreten. Überhaupt reicht die französische, wenngleich doch eher bescheidene Schubert-Tradition bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. So war der erste Sänger, der Schubert in Frankreich gesungen hat, Adolphe Nourrit. Er war erster Tenor an der Pariser Oper und hat alle großen Werke von Rossini und Meyerbeer uraufgeführt. Als er aber dann einmal miterlebte, wie sein Freund Liszt eine Klaviertranskription von einem Schubert-Lied spielte, war das für ihn ein regelrechter Schock. Ab dieser Zeit hat Nourrit begonnen, Schubert auf Französisch zu singen und dafür selbst manchmal die Texte übersetzt. Später ist er nach Neapel gegangen. Nach Nourrits Tod wurde sein Leichnam dann per Schiff von Neapel nach Marseille überführt. Und dort gedachte man ihm mit einer Messe, bei der Chopin zu Ehren seines alten Freundes sogar über ein Lied von Schubert improvisierte.
RONDO: Wie steht es zudem um Schuberts Einfluss auf die französischen Komponisten?
Ghristi: Bis auf vielleicht Charles Gounod fühlten sich Komponisten wie Fauré und Duparc eher Schumann verbunden. Aber unter den zeitgenössischen Komponisten gibt es etwa Bruno Mantovani, der sich mit Schubert sehr gut auskennt. Für eine Oper hat er sogar mal auf Zitate aus Schuberts Opern »Fierrabras« und »Alfonso und Estrella« zurückgegriffen.
RONDO: Aber Schuberts Opern sind im Original in Frankreich wahrscheinlich noch seltener zu hören als in Deutschland …
Ghristi: Tatsächlich wurde bislang noch nie eines seiner Stücke an der Pariser Oper aufgeführt. Ich mag zwar alle Werke von Schubert. Aber ich finde, dass er erst in seiner Klavier- und Kammermusik sowie in seinen Liedern ganz bei sich ist. Er ist nicht wirklich für die Öffentlichkeit gemacht. Schubert braucht nicht das ganze Theater, sondern das Intime. Und erst durch das Intime wird er unwahrscheinlich mächtig.
Guido Fischer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2012
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