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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Phil Knott

Joshua Bell

Bach wie Butter

Der Spitzengeiger Joshua Bell legt sein erstes Bach- Album vor – mit den Konzerten. Denn an die Sonaten traut er sich nicht heran.

Folgendes ist keineswegs despektierlich gemeint: Joshua Bell sieht immer noch aus wie das letzte aktive Mitglied der Boyband „Bay City Rollers“ in den 70er Jahren. Was soll falsch daran sein? Ein Ponyhof von Haaren türmt sich ihm höchst ansehnlich zu Häupten. Ein geborener Mädchenschwarm, was soll man da tun?! Doch „Josh“, wie er sich selbst auf seinem Anrufbeantworter nennt, ist inzwischen 46 Jahre alt. Höchste Zeit, um die Filmmusik-Mucken, etwa für das oscarprämierte Geigen-Biopic „Die rote Violine“, langsam zu vergessen. Und sich redlich um die alttestamentarischen Größen des Repertoires zu kümmern. Zeit für Bach!
„Das Gute an Bach ist, dass er von allen möglichen Seiten betrachtet werden kann – und immer Gewinner bleibt“, so Bell am Telefon in New York. „Seine Sonaten und Partiten sind der heilige Gral für Violinisten. An die wage ich mich noch nicht einmal heran!“ Und zwar mangels Konzerterfahrungen, wie er erläutert. „Bei Bach hat alles eine perfekte Ordnung. Wenn man ihn spielt, hat man den Eindruck: Die Welt ist richtig so.“ Damit hat er die neue Bach-CD mit Violinkonzerten schon hinlänglich beschrieben: ein Bach wie in der Schneekugel. Idyllisch, hermetisch schön und leicht romantisch rieselnd.
„Die einen werden sagen: zu romantisch. Die anderen: zu trocken. Man kann es nicht allen Recht machen“, so Bell. „Ich bin gerne unauthentisch. Und liege zwischen allen. Wichtig ist mir, dass Bach nicht pedantisch klingt und nicht ‚stilisiert’. Das ist überhaupt ein Wort, das ich nicht mag.“ Daraus lernen wir, und das ist gar nicht so untypisch für Amerikaner: Obwohl diese einen brillanten, sehr schönen Ton favorisieren – und dabei gern bis zum glamourösen Glitzern gehen –, ist das wahre Ideal auch von Josh Bell: „Natürlichkeit“. Er sagt es selber so.
Geboren 1967 in Bloomington/ Indiana als Sohn eines Universitätsprofessors, fing er vierjährig mit der Geige an. Die Mutter hatte bemerkt, dass das Kind auf Gummibändern Töne hervorzubringen suchte. Mit 12 Jahren kam er zu Josef Gingold, einem Schüler von Eugène Ysaÿe; bei ihm studierten auch Ulf Hoelscher und Leonidas Kavakos. Seit seinem Durchbruch 1985 in der Carnegie Hall hat er sich als wohl bedeutendster amerikanischer Geiger seiner Generation etabliert, mit regelmäßigen Tourneen auch nach Europa. Seit 2011 fungiert er auch als künstlerischer Leiter der „Academy of St Martin in the Fields“. CD-Klassiker von ihm sind etwa die Violinkonzerte von Barber, Walton, Goldmark und Corigliano.

„Das Leben ist geräuschvoll und lärmig genug. Man wünscht sich keine Klangtapete aus guter Musik.“

Einige Aufmerksamkeit erhielt er 2007 durch seine Teilnahme am sogenannten „Washington Post Experiment“. Vor versteckter Kamera – und getarnt unter einer Basecap – spielte er inkognito als Straßenmusiker in der New Yorker U-Bahn. Mit dem blamablen Ergebnis, das von gezählten 1097 Passanten nur sieben stehen blieben, um dem Spiel zuzuhören. Er nahm 32 Dollar ein; wobei das bizarrste Detail darin besteht, dass allein 20 Dollar dieser Summe von der einzigen Person stammten, die ihn erkannt hatte. „Sie muss komplett verrückt gewesen sein“, lacht Bell nachträglich. Und zwar deswegen, weil jemand, der diesen Musiker in der U-Bahn erkennt, wohl kaum auf den Gedanken verfallen muss, ausgerechnet er sei dieser finanziellen Hilfe bedürftig.
„Ich hatte von Anfang an gesagt, dass das nicht funktionieren würde“, so Bell. „Es war mehr so ein Happening.“ Dieses habe allerdings gezeigt, wie wenig Sinn es macht, Leute nebenbei mit guter Musik zu berieseln. „Das Leben ist geräuschvoll und lärmig genug. Man wünscht sich keine Klangtapete aus guter Musik.“ Darin hätten die vorbei gehenden Passanten ganz Recht gehabt.
Folglich präsentiert Bell auch die beiden Bach-Violinkonzerte plus die berühmte Chaconne (in Mendelssohns Orchestrierung) und Schumanns Fassung des „Rondeau en Gavotte“ aus der 3. Partita nicht als beiläufiges Background-Gesäusel. Sondern als vollwertige Virtuosenkost. Der leichte, wellnesshafte Grundduktus der „Academy of St Martin in the Fields“ hebt dabei und macht luftig. Nichts für Dogmatiker! Aber auch nicht für Hinterweltler (Bell hat immerhin schon früher mit Roger Norrington Aufnahmen gemacht). Sondern: etwas für Leute, die den petrolhaft leuchtenden, hinreißend vollen Ton schätzen, den Bell seiner Stradivari entlockt.
Diese „Stradivarius ‚Gibson ex Huberman’“ (aus der „goldenen Ära“ dieses Geigenbauers) ist eines der berühmtesten Instrumente überhaupt. Es gehörte früher dem legendären Bronislav Huberman. Ihm wurde das Instrument 1936 gestohlen und gelangte erst in die Öffentlichkeit zurück, nachdem der Dieb auf dem Sterbebett geständig wurde. Bell kaufte es für knapp vier Millionen Dollar (wofür er seine eigene Stradivari veräußerte). Auf die Frage, ob er angesichts dieser Diebstahlsgeschichte nicht nervös sei, antwortet er heute: „Ach was, wir Geiger haben immer sündhaft teure Instrumente. Fragen Sie mal eine Mutter, ob sie nervös ist wegen der Sorge um ihr Kind. Das ist viel schlimmer. Und ebenso machbar, oder?“

Neu erschienen:

Johann Sebastian Bach

Violinkonzerte a-Moll BWV 1041 und E-Dur BWV 1042, Chaconne d-Moll u.a.

Joshua Bell, Academy of St Martin in the Fields

Sony

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Darf’s ein bisschen mehr sein?

Die beste Aufnahme? Bei dieser Frage muss selbst Joshua Bell passen. Die beiden Violinkonzerte sind die mit Abstand meistaufgenommenen Instrumentalkonzerte Bachs. Den Aufbruch innerhalb der historischen Aufführungspraxis markierte 1967 Alice Harnoncourt. Eine Spur, die nach ihr von Janine Jansen, Monica Huggett, Andrew Manze und Rachel Podger eindrucksvoll weiterverfolgt wurde. Bei den traditionellen Geigern haben sowohl Menuhin wie Grumiaux, Szeryng, Midori und Hilary Hahn diesen Stier bei den beiden Hörnern gepackt. Nur: Eine absolut kanonische Aufnahme – so wie es bei den Sonaten & Partiten Nathan Milstein gelang – haben die BWV 1041 und 1042 bisher nicht hervorgebracht.

Robert Fraunholzer, 18.10.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2014



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