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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Sol Gabetta

Hebräische Meditation

Auf ihrem Album versammelt die argentinische Cellistin Werke, die von jüdischer Musiktradition inspiriert sind.

Dmitri Schostakowitsch wusste stets ganz genau die Zeichen der Zeit zu deuten und reagierte entsprechend. Als Ende der 1940er Jahre deutlich wurde, dass der sowjetische Antisemitismus Stalinscher Prägung noch einmal dramatischere Züge annehmen würde, ließ Schostakowitsch ganz schnell zwei lebensbedrohliche Werke in der Schublade verschwinden. Das 1949 komponierte 4. Streichquartett kam so erst kurz nach dem Tode Stalins im Dezember 1953 zur Uraufführung. Und 1956 erlebte – ebenfalls deutlich später – ein Liedzyklus seine Premiere, den Schostakowitsch 1948 geschrieben hatte. „Aus hebräischer Volkspoesie“ hieß die elfteilige Sammlung, für die Schostakowitsch Elemente der jüdischen Musik noch unmittelbarer verarbeitet hatte als im nachfolgenden Streichquartett.
Dass er die jüdische Musik derart ins Zentrum rückte, indem er sie mit seiner typischen, ebenso beklemmenden wie bedrohlichen Klangsprache verschmolz, lag in seiner Seelenverwandtschaft zu ihrer Haltung begründet. „Sie hat viele verschiedene Seiten und kann gleichzeitig fröhlich und traurig sein“, so Schostakowitsch gegenüber einem unbekannten Gesprächspartner. „Fast immer handelt es sich um ein Lachen unter Tränen. Diese Eigenart der jüdischen Musik kommt meiner Auffassung von Musik sehr nahe. In der Musik sollte es immer zwei Schichten geben. Die Juden hat man so lange gequält, bis sie lernten, ihre Verzweiflung zu verbergen. Darum bringen sie ihre Verzweiflung in der Tanzmusik zum Ausdruck.“
Der Geist dieser Worte hat sich nicht nur in der Musik Schostakowitschs niedergeschlagen. Auch die des gebürtigen Schweizers und späteren Amerikaners Ernest Bloch lässt sich unter diesem Motto erkunden. Von ihm hat Sol Gabetta – neben Lieder-Arrangements von Schostakowitschs Vokalzyklus – Stücke für ihre neue CD „Prayer“ ausgewählt, die für sie zum Teil in Töne gesetzte Gebete sind. Blochs „Prayer“ war auch der eigentliche Auslöser für ein CD-Programm, bei dem die Verschmelzung des jüdischen Klangerbes mit der klassischen Musik im Zentrum steht. „Ich spielte ‚Prayer‘ oft als Zugabe in Konzerten und konnte bei vielen Menschen eine Betroffenheit und Ergriffenheit spüren“, so die argentinische Starcellistin. „Die Musik ist sinnlich und besinnlich zugleich.“
Neben dem dreisätzigen Zyklus „Jewish Life“, einem Satz aus dem 1923 ursprünglich für Violine komponierten Zyklus „Baal Shem“ sowie der „Méditation Hébraïque” hat Gabetta mit „Schelomo“ zudem Ernest Blochs bekanntestes Werk aufgenommen. Ihre Beschäftigung mit dem 1916 geschriebenen Werk ging auf Leonard Slatkin zurück, mit dem sie es auch im Konzertsaal oft gespielt hat. „Es ist ein ausladendes großes Cellokonzert, in dem das Cello die Rolle des Königs Solomon ‚spricht‘.“ Überhaupt lassen sich für Gabetta in den Kompositionen von Bloch und Schostakowitsch die Quellen der so uralten Glaubens- und Kulturgeschichte des jüdischen Menschen wiederfinden. Daher ist „Prayer“ auch ein Bekenntnis in einer Zeit, in der ein neuer Antisemitismus mal wieder viele Juden zwingt, ihre alten Heimatländer wie Frankreich, Spanien und die Niederlande zu verlassen.

Neu erschienen:

Ernst Bloch, Dmitri Schostakowitsch

„Prayer“

Sol Gabetta, Cello Ensemble der Amsterdam Sinfonietta, Amsterdam Sinfonietta, Orchestre National de Lyon, Candida Thompson, Leonard Slatkin

Sony

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Reinhard Lemelle, 08.11.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2014



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