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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Aufstand der Thielemann-Jünger

Das Ende der Alten Musik

Quo vadis, historische Aufführungspraxis? Die Barock-Stars wie Minkowski und Savall haben die Abonnements der Konzerthäuser erobert, städtische Sinfonieorchester spielen Mozart mit Natur-Blechbläsern und Lederpaukenschlegeln, als wäre es nie anders gewesen. Wenn es Christian Thielemann nicht gäbe – wir wüssten bald nicht mehr, wie die Sinfonik von Brahms und Bruckner vor 70 Jahren aufgeführt wurde, meint RONDO-Chefredakteur Carsten Hinrichs.

Er muss schon was wegstecken: So begeistert seine Fans ihn feiern, so giftig ätzen die Kritiker zuweilen gegen die spätromantischen Manieren von Dirigent Christian Thielemann. Gedehnte Tempi, demonstrative Ritardandi vor den Höhepunkten, ein ganz breiter Pinsel. Der letzte Vertreter deutscher Kapellmeistertradition. Als Doyen Joachim Kaiser ihn anlässlich seiner Beethoven- Gesamteinspielung in München kürzlich hochleben ließ, stellte er ihn in eine Reihe mit Furtwängler und Karajan. Lebende Dirigenten fielen ihm auch auf Nachfrage nicht ein. Und als RONDO-Kritiker Christoph Braun in seiner Rezension die willkürliche Tempowahl bemängelte, die Beethovens Angaben schlicht ignoriert, hagelte es Wutmails der treuen Fangemeinde. Da drängt sich fernab des persönlichen Geschmacks die Frage auf: Was wird hier eigentlich mit Zähnen und Klauen verteidigt? Die »Wahrheit« der Beethovenrezeption, welche auch immer? Oder doch nur der gewohnte Breitwand- Weichzeichner gegen den Vormarsch darmsaitendünner Barockästheten? Die haben nämlich schon längst die Finger ausgestreckt nach dem Kernrepertoire der Romantik.

Katzenmusik mit wissenschaftlichem Anspruch

Nur wenige wissen, dass die sogenannte historische Aufführungspraxis ihre Wurzeln in jener Zeit hat, deren Werke so heftig gegen ihre Methoden verteidigt werden. Auch wenn Mendelssohn seinen Bach, Mozart seinen Händel Aufstand der Thielemann-Jünger Das Ende der Alten Musik an die zeitgenössische Orchesterbesetzung und Spielweise anpassen, ihre Initiativen werden vom Historismus des 19. Jahrhunderts und seiner Sehnsucht nach einem nationalen Erbe im völlig zersplitterten Deutschland aufgepäppelt. Keine Denkmälerausgaben der Werke Händels oder Schütz‘, ja nicht mal eine Musikwissenschaft gäbe es heute. Ein weiterer Impuls ist die Verwendung historischer Instrumente, die François-Joseph Fétis in seinen 1832 in Paris gegründeten Concerts historiques einsetzt. Katzenmusik mit wissenschaftlichem Anspruch: Die Spieltechniken der urtümlichen Geräte liegen im Dunkeln und müssen erst mühsam erforscht werden.
Das sollte die Beschäftigung des 20. Jahrhunderts werden. Die 20er Jahre machen sich auf die Suche nach dem »Originalklang«, die Orgelbewegung rund um Albert Schweitzer fordert den Rückbau romantisch-aufgestockter Orgeln und der Schweizer Industrielle Paul Sacher gründet 1933 die Schola Cantorum Basiliensis – bis heute die wohl einflussreichste Hochschule für historische Aufführungspraxis. Erstmals hat man hier den Anspruch, nicht allein durch Forschung die Praxis voranzubringen, sondern auch Erkenntnisse aus dem Spiel zu Tempo, Akustik und Besetzungsgröße in die Theorie zu spiegeln. Dabei ist historische Aufführungspraxis stets der Schrei nach Frischluft und Protest. Gegen ein erstarrtes, nach 1945 auch gegen ein in der Diktatur ideologisch missbrauchtes Repertoire sinfonischer Schlachtrösser, deren bisherige Lesart suspekt geworden ist. Die Neue und die Alte Musik (wenn man sie groß schreibt), entstehen parallel am Anfang des Jahrhunderts, im Endzeitgefühl spätestromantischer Harmoniewucherungen. Man ist auf der Suche nach neuen Wegen zur Musik – ob durch Zerschlagung der ausgereizten Tonalitätsbezüge in der Zwölftonmusik oder durch Experimente mit barocker Klangerzeugung und das als authentischer empfundene Aufrauen des romantischen Streichernebels. Der Blick hinter die Repertoire-Schallmauer 1750 fördert vergessenes und unverbrauchtes Musikmaterial zu Tage.
Dazu gehört auch ein radikaler Wandel des Musikerbildes: weg vom selbstherrlichen Virtuosen zum Laienmusiker, Schluss mit hohepriesterlichen Taktstockheroen. Die Mitmachmentalität der Instrumentenbau- und Notenmärkte ist freilich schnell zu Ende, als die ersten Profimusiker beginnen, sich für Aufführungspraxis zu interessieren, aus der Freizeitinitiative des Cellisten Nikolaus Harnoncourt entsteht der Concentus Musicus, Anfang der 70er gründeten zeitgleich Goebel die Musica Antiqua Köln, Hogwood die Academy of Ancient Music und Kuijken das Ensemble La Petite Bande. Das eröffnet die Grabenkämpfe um aufführungspraktische Details. Denn wie sich schnell herausstellt, kann man die Quellen so oder anders lesen und Unliebsames einfach ignorieren. Damit hat sich auch der »Originalklang« erledigt. Harnoncourt erteilt dem authentischen Monteverdi schon in den 60er Jahren eine Absage, bei ihm gibt’s nur – Harnoncourt pur. Heute ist er ein Denkmal, wenn auch ein funkensprühendes, der eigenen Stilistik.
Und wozu dann der Forschungsaufwand? Das ist allen Dirigenten der ersten Generation gemeinsam, ob Christie, Kuijken oder Jacobs. Die Quellen sind erschlossen, das Wissen enorm, aber es wird beweglich eingesetzt und soll das interpretatorische Gespür mehr leiten als einengen. Musik macht man für das Publikum von heute, wer weiß schon, wie es im Barock wirklich zuging? Die bekanntermaßen schmale Besetzung öffentlicher Opernhäuser in Venedig hindert René Jacobs nicht, die Opern Cavallis mit allem aufzuführen, was der moderne Orchestergraben an erlesenen Renaissanceinstrumenten aufnehmen kann. Das ist nicht authentisch, aber herrlich sinnlich. Sein Forscherinteresse hat sich heute auf die Zeit zwischen 1790 und 1830 verlagert.

Blick zurück nach vorn

Auch das ist ein Trend. Jacobs‘ Blick aus dem Barock »nach vorn« hat Mozarts Opern wieder taufrisch gemacht. Philippe Herreweghe arbeitet sich durch die großen Chorwerke des Barock, bevor er sinfonisch bis zu Schumann und Bruckner vorstößt. Minkowski bekommt bei Berlioz Begleitschutz von Paul McCreesh, dem ehemaligen Gabrieli-Meister. Als müsse man die Musikgeschichte ein zweites Mal erzählen. Das ist das Ende der »Alten Musik«, aber die Aufführungspraxis hat gerade erst begonnen.
Ihr größter Gewinn liegt eigentlich in der Vielfalt stilistischer Möglichkeiten. Keine Generation vor uns konnte aus so viel Musik und so vielen Varianten wählen. Für die Klavierkonzerte Bachs herrscht weder Cembalo-Zwang, noch Steinway-Gebot, es gibt sie herrlich romantisch mit Edwin Fischer, dynamisch federnd auf dem Cembalo mit Richard Egarr, historisch geschärft auf dem modernen Flügel mit Alexandre Tharaud oder sogar, a la Busoni, von Martin Stadtfeld. Wer wollte sich da ereifern, statt immer wieder neu zu genießen?
Klar, wer sich eine Welt der überzeitlich gültigen Beethoven-Interpretation wünscht, reagiert auf Wahlfreiheit überfordert. Der göttliche Funken des Kunstwerks verliert sich nicht im Pluralismus – man findet ihn ohnehin nur im eigenen Musikgenuss, nicht im Klang großer Namen vor traditionsreichen Orchestern. Vielleicht ist es an der Zeit, auch Christian Thielemann als Vertreter, ja geradezu als Avantgarde der Aufführungspraxis zu begreifen, der die abgelegte Stilistik der Zeit Furtwänglers und Karajans zurückholt in den Pool der Möglichkeiten, nicht mehr und nicht weniger. Und wir haben die Wahl.

Historisch:

Ludwig van Beethoven

Die 9 Sinfonien

Orchestre Révolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner

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Romantisch:

Ludwig van Beethoven

Die 9 Sinfonien

Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann

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Aufführungspraktisch:

Ludwig van Beethoven

Sie 9 Sinfonien

Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly

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Carsten Hinrichs, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2012



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