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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Hörtest

Das fünfte Evangelium: Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion

Vom großorchestralen Betroffenheitsbarock bis zur puristischen Solobesetzung reichen die höchst vielfältigen und unterschiedlichen Einspielungen dieser tiefgründigsten und monumentalsten aller barocken Passionsvertonungen. Michael Wersin hörte sich durch mehr als 60 Jahre Aufnahmegeschichte und empfiehlt die besten Interpretationen.

Die Wiedergeburt von Bachs Matthäuspassion aus dem Geiste der Bürgertümlichkeit begann als Wagstück eines jungen Genies: 14 Jahre alt war Felix Mendelssohn Bartholdy, als seine Großmutter ihm eine Abschrift der autografen Partitur schenkte; seither strebte er danach, das als unaufführbar geltende Stück der Öffentlichkeit zu präsentieren. Als kaum 20-Jähriger sprach er mit seinem Freund Eduard Devrient bei der Berliner Singakademie und deren Leiter, seinem Mentor Carl Friedrich Zelter, vor, um den Saal für einen „wohltätigen Zweck“ zu reservieren. Mendelssohn und Devrient traten „leise“ und „bescheidentlich“ auf, sie hatten sich für den Termin extra gelbe Handschuhe gekauft. Zelter hatte Teile der Matthäuspassion zwar mit seiner Singakademie geprobt, hielt aber nichts von einer Aufführung. Als eine solche entpuppte sich jedoch rasch der „wohltätige Zweck“; sie fand am 11. März 1829 statt und darf als Großtat der jüngeren abendländischen Kulturgeschichte betrachtet werden.
Leider sind jene beiden CD-Einspielungen der Matthäuspassion, die auf Mendelssohns überlieferter Einrichtung (bzw. sanfter Bearbeitung) der Partitur für die 1841 in Leipzig wiederholte Aufführung beruhen, derzeit vergriffen; sie belegen, sofern man der Rekonstruktionsleistung von Christoph Spering bzw. Diego Fasolis Vertrauen schenken darf, dass nicht Mendelssohn die Matthäuspassion zu jenem monumentalen Ungetüm gemacht hatte, als das man sie bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein regelmäßig zu hören bekam. Nein, Mendelssohn demonstrierte nicht zuletzt durch seine eigenen Werke, dass er noch eine durchaus profunde Vorstellung von schlankem und geschmeidigem polyfonen Chor- und Orchestersatz hatte. Die Entfremdung von der barockmusikalischen Ausdruckswelt und ihren aufführungspraktischen Voraussetzungen sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts noch viel weiter voranschreiten.
Der Mitschnitt einer Aufführung unter Leitung von Willem Mengelberg im Amsterdamer Concertgebouw am Palmsonntag des Jahres 1939 dokumentiert eine Interpretationspraxis, die – unter demselben Dirigenten – bis in das Jahr 1899 zurückreicht. Schon im Orchestervorspiel des Eingangschors weht uns der Geist eines romantisch-sinfonischen Verständnisses der Musik Bachs an: Expressivität wird erreicht durch höchste Legato-Intensität in jeder einzelnen Linie; durch schwere Ritardandi und süffige Portamenti wird quasi mit dem Finger auf besondere Wendungen gezeigt, die nach heutigem Empfinden allein durch sich selbst zu wirken vermögen. Karl Erb (geb. 1877) zelebriert durchaus eindrucksvoll die Evangelistenpartie. In den Arien – nicht wenige sind nach damaliger Praxis gestrichen – werden die teils gar nicht so langsamen Grundtempi immer wieder (nicht nur in den Kadenzen) massiv heruntergebremst, gelegentlich bis zum halben Tempo. Die Streicher- Coronae der Christusrezitative bilden faktisch Klangräume, in die der näselnde Willem Ravelli die Jesusworte gemessen und nachdrücklich hineinrezitiert.
Schlichter, in den Tempi zügiger und im Gesamtduktus dramatischer geht Fritz Lehmann 1949 das Werk an: Der junge Fischer-Dieskau liefert hier vielleicht seine unprätentiöseste Version der Christuspartie; Helmut Krebs gestaltet den Evangelisten textnah, prägnant und ohne übermäßiges Pathos. Die Turbae-Chöre präsentieren sich geradezu fetzig, also in passender Weise tumultartig erregt – eine Ausnahme in jenen Tagen.

Ausdrucksschwangere Betroffenheit

Hinsichtlich Stringenz und dramatischer Zugkraft bedeutet denn auch Wilhelm Furtwänglers Wiener Matthäuspassion (1954) einen deutlichen Rückschritt gegenüber derjenigen Lehmanns; hier bestimmt wieder ausdrucksschwangere Betroffenheit das Bild, zügig-objektives Erzählen steht selbst im Evangelienbericht nicht im Vordergrund. Anton Dermota agiert als Evangelist teilweise technisch unsicher, Fischer- Dieskaus Christusvortrag leidet unter registerbedingten Intonationsschwächen, Otto Edelmann holzt geradezu grotesk durch die Arien.
Überraschend wenig revolutionär wirkt aus heutiger Sicht Karl Richters Auftritt im Kreis der Bachdirigenten: Seine Einspielung der Matthäuspassion von 1958 fällt keineswegs durch generell raschere Tempi auf (der Eingangschor dauert bei ihm länger als bei Lehmann und Furtwängler, die Altarie „Buß und Reu“ sogar länger als in allen drei zuvor erwähnten Aufnahmen). Negativ fällt im Chor das Skandieren ohne große Rücksicht auf die Hebungen und Senkungen des Textes auf; die höhere Stringenz und Eindringlichkeit seiner Darbietung, die das damalige Publikum elektrisierte, erreicht Richter u.a. durch die bohrende Intensität im Streicher- und Bläserklang, die man aus heutiger Sicht kaum als fortschrittlich (etwa gegenüber Lehmann) betrachten kann. Unsterblich ist seine frühe Einspielung der Matthäuspassion dennoch aufgrund der großartigen, in ihrer lyrischen Expressivität zeitlos gültigen Leistung Dietrich Fischer-Dieskaus als Arienbass (man trifft ihn in anderen Aufnahmen ausnahmslos als Christusinterpreten an).
Otto Klemperers höchst kultivierte, aber vom Geist schwermütiger Ruhe beseelte Version von 1960/61 erregte aufgrund der schleichenden Tempi schon bei den Sitzungen den Ärger einiger Interpreten („It’s miserable!“, soll Peter Pears gequält ausgestoßen haben) – man beachte aber die hohe Qualität von Orchester und Chor.
1965 produziert Karl Münchinger mit seinem Stuttgarter Kammerorchester ähnlichen Wohllaut auf schmalerer Besetzungsbasis, freilich nach wie vor im sahnigen Legato-Klangbad. Münchinger setzt die Stuttgarter Hymnusknaben ein, die allerdings auf gleichmäßig breiten Klangstrom getrimmt sind; unter den Solisten befinden sich Elly Ameling als Solosopran und Fritz Wunderlich als Arientenor, die mit zeitlos schöner Darbietung besonderen Glanz erzeugen.
Die Brüder Rudolf und Erhard Mauersberger zeichnen gemeinsam verantwortlich für eine Version mit den Thomanern und den Kruzianern, die, begleitet vom Gewandhausorchester und unter Mitwirkung von Peter Schreier (Evangelist) und Theo Adam (Christus), der damaligen ostdeutschen Bachtradition verhaftet ist: schwerfälliger Gesamtduktus, im Klang weich und leicht blässlich. Immerhin sticht Peter Schreier durch die deklamatorisch prägnante Gestaltung des Evangelisten hervor: Er war in dieser Partie ohne Zweifel einer der Großen seiner Zeit.

Historische Aufführungspraxis

Im selben Jahr entsteht in Wien unter Nikolaus Harnoncourt die erste Einspielung auf historischen Instrumenten: Erstmals erlebt hier der Hörer die praktische Umsetzung der musikalischen Rhetorik. Text und Musik offenbaren ihre enge Verbindung, ihre starke Bezugnahme aufeinander in zuvor nicht gekannter Weise; es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in der barocken Musik der Ausdruck weitgehend schon mittels ebenjener engen Verzahntheit von Wort und musikalischer Figur komponiert ist und daher nicht noch von den Interpreten durch pathosgeladenes Vortragen verschiedenster Art gemacht werden muss. Harnoncourt berücksichtigt außerdem die Doppelchörigkeit des Aufführungsapparates auch bei den Solisten, was selbst nach ihm kaum wieder jemand so konsequent getan hat. Die Altsoli besetzt er mit Countertenören (James Bowman und Paul Esswood), als brillante Arienbässe sind Max van Egmond und der junge Michael Schopper zu hören. Die Sopransoli sind mit Regensburger Domchorknaben besetzt, welch letztere in ihrer Gesamtheit auch die Chöre stellen. Eine nicht nur interpretationsgeschichtlich bemerkenswerte, sondern bis heute (vor allem auch im Blick auf Harnoncourts weit weniger überzeugende zweite Einspielung) begeisternde Leistung!
John Eliot Gardiners 1988 entstandene Matthäuspassion in historisierender Praxis ist die vom Autor insgesamt favorisierte: Als delikatdifferenzierter Evangelist ist Anthony Rolfe Johnson zu erleben; der noch brillante Andreas Schmidt erfreut als erstklassiger (jugendlicher!) Christus, Chor und Orchester erlangen ein faszinierendes Pulsieren aufgrund umfassender Rücksicht auf die Rhetorik; erstklassig auch Anne Sofie von Otter und Michael Chance. Gardiner verwirklicht die Doppelbesetzung auch des Solistenquartetts, verteilt aber die Arien nicht konsequent gemäß Chor I bzw. II.
Gemischter ist das Bild in Philippe Herreweghes jüngerer Einspielung (1998) mit einem Gardiners Monteverdi Choir durchaus ebenbürtigen Chor in vergleichbarer Größe; Ian Bostridge überzeugt als Evangelist, Andreas Scholl meistert die Altarien tadellos; der Rest der Besetzung ist allerdings von unterschiedlicher Güte: Franz-Josef Selig z.B. klingt als Christus dumpf und schwerfällig.
Ähnlich durchwachsen auch Masaaki Suzukis fast zeitgleich entstandene Aufnahme: Die Qualität der Solisten ist uneinheitlich, die Aufnahmelokalität zudem recht hallig, wodurch sein noch etwas kleiner als bei den beiden zuvor genannten Aufnahmen besetzter Chor eigenartig indifferent und breiig klingt.
Aus dem Jahre 2002 stammt die Version von Paul McCreesh, die erstmals auf CD die Chorstärketheorie der „Minimalisten“ Andrew Parrott und Joshua Rifkin in die Praxis umsetzt: McCreesh arbeitet mit einer einfachen Sängerbesetzung von insgesamt acht Vokalisten, die sowohl den Chor bilden als auch die Solistenpartien bestreiten. Das Ensemble hat die Matthäuspassion in dieser Weise auch konzertant aufge führt, es handelt sich also nicht um einen Studiotrick: Sänger und Instrumente erweisen sich hinsichtlich der Lautstärke als erstaunlich ausgewogen. McCreeshs Tempi geraten angesichts der kleinen Besetzung insgesamt sehr rasch – sein Eingangschor ist womöglich der schnellste der Aufnahmegeschichte, der Evangelienbericht (gesungen von Mark Padmore als Evangelist und Peter Harvey als Christus) gelingt sehr stringent und dramatisch. Deborah York, Magdalena Kožená, James Gilchrist und Stephan Loges überzeugen vollkommen innerhalb der ansonsten leider nicht ganz homogenen Sängerbesetzung.

Auswahldiskografie:

Version Mendelssohn Leipzig 1841:

Das Neue Orchester, Chorus Musicus, Christoph Spering

Naïve

Version Mendelssohn Leipzig 1841:

Choeur et Orchestre de la Radio Télévision Suisse-Italienne, Diego Fasolis

Assai

Amsterdam Toonkunst Choir, Concertgebouw Orchestra Amsterdam, Willem Mengelberg

Naxos

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Großer Chor des Berliner Rundfunks, Fritz Lehmann

Music&Arts/Note 1

Wiener Singakademie, Wiener Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler

EMI

Münchener Bach-Chor, Münchener Bach- Orchester, Karl Richter

DG

Philharmonia Choir, Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer

EMI

Stuttgarter Hymnus-Chorknaben, Stuttgarter Kammerorchester, Karl Münchinger

Decca

Dresdner Kreuzchor, Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester

Berlin Classics

Regensburger Domchor, Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt

Teldec

The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner

DG

Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe

harmonia mundi

Bach Coll. Japan, M. Suzuki

BIS

Gabrieli Players, Paul McCreesh

DG

Michael Wersin, 06.09.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2007



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