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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Von der Tarantel gestochen und unter südlicher Sonne gereift

Ein ekstatisches Therapeutikum aus Apulien + Eine vollmundige und elegante Crianza für Gitarre aus Spanien + Da steppt Graf Dracula: Poppige Blasmusik aus Rumänien +

Der Ursprung der süditalienischen Tarantella ist bekannt: Leute, von denen man glaubte, sie seien von der Tarantel gestochen, durften beim Pizzicaritual ein, zwei Wochen ohne Unterlass durchtanzen bis sie von Trance und Erschöpfung übermannt wurden. Was Folkloregruppen aus Neapel als Tarantella präsentieren, ist meist eine moderate, allzu domestizierte Variante dessen, was einst wohl orgiastische Züge besaß. Wie stark die „Pizzica Salentina“, der apulische Ahn der Tarantella, in Reinkultur heute noch als ekstatisches Therapeutikum wirkt, weiß ich nicht. Mit impulsivem Jazz angereichert entfaltet sie jedenfalls eine stimulierende, jegliche Müdigkeit verscheuchende Wirkung. Nico Morelli kommt aus Apulien. Allein schon als mit allen Wassern gewaschener (oder sollte es hier nicht eher heißen: von allen Feuern aufgeheizter) Jazzpianist ist er eine Offenbarung, ein Musiker mit frappierender Mischung aus Intelligenz, Intuition und Instinkt – Eigenschaften, die ja trotz Alliteration nicht immer zusammengehen. Wenn er dann auch noch von einer überzeugenden Idee angestachelt wird (oder war’s doch die Tarantel?), wie sie in „Un[folk]ettable. Pizzica & Jazz Project“ (Cristal Records CR 117) betörende Gestalt angenommen hat, weiß man, dass der mit 42 immer noch als vielversprechendstes italienisches Klaviertalent gehandelte Mann doch längst alle Versprechen erfüllt. Wenn er das Klavier mit Wucht und zugleich deutlich hörbarer klassischer Schulung als Rhythmusinstrument traktiert, erinnert er in seiner freu digen Erregung an Dave Brubeck, obgleich andere seinem Stil Pate standen. (Das Stück „Contropizzica“ klingt jedenfalls wie ein mediterraner Bruder des „Blue Rondo à la Turk“). Doch was wäre die Crossover-Leistung des Klaviertrios ohne die aufgekratzten authentischen Gesänge von Tonino Cavallo mit obligatem Tamburin und anderem folkloristischen Rüstzeug oder dem vielseitigen Beitrag des multiinstrumental eingespannten Gitarristen Mathias Duplessy. Lyrische Inseln sorgen dafür, dass die dauernde Ekstase nicht ermüdend wird. Musik, von der kräftigen Farbe, feinen Würze und soliden Struktur eines guten Salice Salentino.
Eine Crianza muss mindestens 24 Monate gereift sein, bevor sie in den Handel kommt, und Solera ist die spanische Bezeichnung für das traditionelle Lagerungssystem bei der Herstellung von Sherry, heißt aber auch Boden. Das verrät schon etwas über das Album „Flamenco de Solera y Crianza“ (Galileo GMC019) des außergewöhnlichen Gitarristen Miguel Iven: „Ripeness is all.“ (Shakespeare). Und: Da spielt einer, der mit beiden Füßen auf dem festen Boden der angestammten Tradition steht, doch mit beiden Händen modern musiziert und das ohne Netz und doppeltem Boden. Er ist ein Virtuose, aber einer, der es nebenher ist, nicht blenden noch verführen will, sondern von Herz zu Herz spielt. Mit reifem, reinem Gitarrenspiel, nur vom Produzenten Conny Sommer behutsam begleitet, ohne modischen Schnickschnack. Flamenco kann ja so formelhaft repetitiv und langweilig sein, doch wenn jemand so Vieles und Verschiedenes zu sagen hat, entsteht eine gehaltvolle, vollmundige, doch elegante, feine Crianza mit lange nachklingendem Abgang.
„Queen and Kings“ (Singing Tales of Gipsy Life), das neue Album der rumänischen Pusteweltmeister Fan fare Ciocărlia (Asphalt Tango/Indigo 813892), vorzustellen, heißt wohl Eulen nach Athen zu tragen, hat es doch alleroberste Plätze der Worldmusiccharts erobert. Natürlich sind sie mitreißend wie eh und je. Doch vielleicht kommen sie nun – Erfolg prägt – um Nuancen zu wuchtig, zu schrill, zu poppig perfekt daher, um noch genug von jenem urwüchsigen Charme zu verströmen, der balkanische Blaskappellen so berührend machen kann. Mit seiner Ansammlung südosteuropäischer Stargäste aus aller Herren Länder hat das Album auch etwas von einer knallbunten, lauten Leistungsschau. Doch wie verständlich ist dies! Mit diesem Programm traten die unnachahmlichen Bläser endlich auch auf einer bedeutenden rumänischen Bühne auf, ihr Heimatland, das die in Rumänien missachteten Roma erst erobern mussten, nachdem sie, in Deutschland entdeckt, die halbe Welt zwischen Israel und Japan in ihren Bann geschlagen hatten. Dass ihr Klarinettist Ian Ivancea 2006 verstorben ist, dessen Gedenken das Album gewidmet ist, liest man fast mit Staunen. Das Hauptkennzeichen dieser Musik ist ihre unglaubliche Lebendigkeit. Fast würde man Fanfare Ciocărlia zutrauen, damit Tote zu erwecken und zu einem endlosen Tanz zu animieren. Womit wir wieder bei der Tarantel wären.

Marcus A. Woelfle, 09.08.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2007



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